„The hollow horn plays wasted words, proves to warn, that he not busy being born is busy dying.“ (Bob Dylan)

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Doppelter Bob / „True Dylan“ von Sam Shepard / Inszenierung im Herbst 2013 / TiL Gießen

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Heute Nacht war ich mal bewusst wach. Sonst gerne meistens ungefragt. Das ist anstrengend, aber halt das Alter und seine schmerzlichen Rechnungen. Ich schaute TV. Das Duell der Vizekandidaten überm Teich. Und gleichzeitig war Jimmy Carter 100 Jahre alt geworden. Ein Grund ein bisserl in die Tasten zu seufzen und im eigenen Bauchnabel rumzupuhlen.

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Einen sehr großen Teil des Jahres 1979 verbrachte ich in den Staaten. Zwei Monate Schauspielschule. Woyzeck über dem Teich. Schrieb unlängst davon. Vieles von dem, was seit etlichen Jahren hier auch Alltag wurde, erlebte ich dort, staunend und kopfschüttelnd, ein erstes Mal. Horden von Adipösen. Das Schimpansengrinsen hinter den Bedientresen, welches dir mit einem „Can I help you?“ ins Gesicht springt. Der inflationäre Gebrauch des Wörtchens „Ich“. Das schreckliche „You’re welcome!“ Heute: GÄRNÄ! Das Entschwinden der Fähigkeit zuzuhören. Monologe und gefletschte weißgestrahlte Zahnleisten. TV rund um die Uhr. Dauerbeschallung in gigantischen Einkaufstempeln. Die Malls, das Glück in den Regalen und Bällebad. Die Tanke ist 24/7. Man kann also Zuckersäfte und Sixpacks und dreitausendvierhundert verschiedene Chipssorten neben den Joint legen.

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Präsident war damals Jimmy Carter. Ich trampte nach der Schauspielschule zwei Monate kreuz und quer durchs Land. Unfassbar viele Begegnungen. Viel Verächtliches. „He’s just a peanutfarmer.“ Das hat ihm wohl auch der damals etwas präpotente Helmut Schmidt – „Ain’t your chancellor a communist?“ (irgendwo in den Südstaaten) – vermittelt, der natürlich wusste wie die Welt funktioniert. Und die Wirtschaft. Also die Welt. Einst.

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In den Tagen meines Hitchhikens schlief ich unten Brücken, in Wäldern, auf Baustellen oder einfach gar nicht. Wurde eingeladen in Villen, Hütten, Mobile homes und miese Motels inklusive Belästigung. Der Dollar war innerhalb weniger Jahre vom Wechselkurs rund um die 4 DM auf 1,80 runtergeschlittert. Die Amis nagten ihre Knochen Vietnam und Watergate ab. Alkohol, Gas (Benzin) und Weed kosteten wenig bis nichts. Jahre später, der Nachfolger des unsäglichen Nixon war – der gute alte immer stets hysterische Unruhestifter Iran wollte die Geiseln nicht freigeben – vom noch unsäglicherem Cowboypräsident und Zweittarzan benachfolgt worden – las ich von Carters musikalischen Lieben. Es war eine gute Zeit. Die Krise.

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Bob Dylan war mir damals eher fern. Allman Brothers. Johnny Winter. Ich suchte das Blut der Indianer auf den Highways klebend in memoriam Jim Morrison. Jack Keroucs lange Strassen waren aber lediglich nur noch eine postpubertäre Behauptung. Aber in Ferlinghettis Buchladen im Northend hauchte mich ein paar Stunden eine Ahnung an. Von der Ekstase. Es war vielleicht die beste Zeit. Die sich geflissentlich widersprechende Illusion.

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Die Menschheit schreit dieser Tage immer schneller, lauter auf. Das Vernichten des Gegenüber scheint wieder Spaß zu machen. Carter ließ sich von Andy Warhol porträtieren. Viele Farben in einem Gesicht sind möglich.

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Letzte Nacht? Ein Gescheitle gegen einen Teddybären. Zwei Werbetafeln. Etikettenschwindel. Who cares? Sollte ich demnächst wiedergeboren werden müssen, dann bitte als Erdnussfarmer. Oder blöd ginsender Jack.

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„Am Schluß noch die Frage: Macht nun der Mensch die Zeit oder die Zeit den Menschen?“ (Caspar David Friedrich)

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Kiel / Förde / Mitte September 2021

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Messer und Macheten, Drohnen und tätige Opfer. Ewige Opfer. Vor allem die Täter. Keiner jedoch hat gehandelt. Das Lärmen über den Lärm gelegentlich lauter als die üblichen Beeinträchtigungen. Die Länge eines Messers wochenlang Thema im Land der „depressiven Duldungsstarre“. Danke SZ für diese Wortschöpfung. Dieser schreckliche Keim wühlt auch in mir. Synapsenstupor. Wie alt sind die Wunden? Wie alt das Land? Wie alt meine Runden, die ich in diesem Land drehte? Wie hinfällig die Brücken zu mir selbst? Meine Frau sagt mir, ich mache mich älter als ich sei. Ich antworte, wenn ich meine berufsjugendlichen Alterskohorten sehe und höre, sei mir dies ein tiefes Bedürfnis. Welche Tat ist ein Opfer, welches Opfer eine Untat? Noch immer und immer mehr fällt es mir schwer und schwerer mich auf eine Seite zu schlagen. Der eine ausgestreckte Zeigefinger löst meist den nächsten ab. Welches Denken macht dich so sicher? Lande dann immer mal wieder beim Franz, dem Woyzeck.

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Woyzeck – Waldweg am Teich. II (Szene 24.)

Nacht. Woyzeck (kommt herangewankt.)

Das Messer? — Wo ist das Messer? — Ich habs da gelassen. — Näher, noch näher. — Mir graut’s — Da regt sich was. Still! — Alles still und todt. — Mörder! Mörder! Ha! da ruft’s. Nein — ich selbst. (stößt auf die Leiche.) Marie! Marie! Was hast du für eine rothe Schnur um den Hals? Hast dir das rothe Halsband verdient, wie die Ohr-Ringlein, mit deiner Sünde! Was hängen dir die schwarzen Haare so wild —?! — Mörder! — Mörder! — Sie werden nach mir suchen. Das Messer verräth mich! Da, da ist’s — — Leute! — — fort!

(Am Teich.)

So! da hinunter! (wirft das Messer hinein.) Es taucht ins dunkle Wasser wie ein Stein. Aber der Mond verräth mich — der Mond ist blutig. Will denn die ganze Welt es ausplaudern?! — Das Messer, es liegt zu weit vorn, sie findens beim Baden oder wenn sie nach Muscheln tauchen. (geht in den Teich hinein.) Ich find’s nicht. Aber ich muß mich waschen. Ich bin blutig. Da ein Fleck — und noch einer. Weh! weh! ich wasche mich mit Blut — das Wasser ist Blut … Blut … (ertrinkt.)

(Es kommen Leute.)

Erster Bürger. Halt!

Zweiter Bürger. Hörst du? Dort!

Erster Bürger. Jesus! das war ein Ton.

Zweiter Bürger. Es ist das Wasser im Teich. Das Wasser ruft. Es ist schon lange Niemand ertrunken. Komm — es ist nicht gut zu hören.

Erster Bürger. Das stöhnt — als stürbe ein Mensch. Hans! da ertrinkt Jemand.

Zweiter Bürger. Unheimlich! Der Mond roth und die Nebel grau. Hörst? — jetzt wieder das Aechzen.

Erster Bürger. Stiller, — jetzt ganz still. Komm! komm schnell. (eilen der Stadt zu.)

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(Georg Büchner)

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1979 war ich ein paar Wochen in den USA auf einer Schauspielschule. Obige Szene sprach ich dort vor. Die Bürger auch. Auf Englisch. The Knife. The Knife. Blood. Blood. The moon is red, the fog is grey. Silence! Später dann spielte ich in Münster den Doktor. Woooyyyzeck? Hat er an die Wand gepisst? Nochmal später spielte eine große Liebe von mir die Marie. Wiesbaden. Ich arbeitslos, sie im Nachprobenbett mit dem Franz-Darsteller. Und ich inszenierte dann gar nicht sooo viele Jahre später das Stück in der JVA Butzbach. Mit Tätern. Opfern? Ein Höhepunkt meines Berufslebens. Wo fängt etwas an, was nie enden wird. Oder darf?

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Saß eben im Cafe, welches ich eigentlich meiden will und sollte. Zeitungen lesen halt. Am Nebentisch junge Menschen. Sie sind es gewohnt laut zu sprechen. Wir hätten gern das Frühstück Sowieso drei. Können wir dies ohne das und dies und jenes haben? Dafür aber mit? Denke an Wähler. Könnten wir noch ein Brötchen mit Demokratie haben? Aber bitte ohne selles und jenes und überhaupt! Greife erschreckt an meinen Gürtel. Da hängt mein Messer. Das Opinel für die letzten Tomaten, die ich heute Morgen geerntet hatte. Waffenverbotszonen einrichten wir müssen. Die Köpfe jedoch davon freihalten. G’tt ist eh stets mit sich selbst beschäftigt. Draußen wird es wieder etwas wärmer. Im Osten fällt noch mehr Regen. Der nicht einfach so an uns vorbeifließen wird.

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„Ich vergesse, ich vergesse, ich vergesse! Vergesse! I forget!“ (Meredith Monk)

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Vor der Halde / Konstanz / 30. Juli 2024

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Indra, Thor, Perun, Raijin, Tuper und den wir alle kennen: Zeus. Allesamt Donnergötter, Blitzeschmeißer, Ruhestörer, Erinnerer an die dem Menschen verordnete Ohnmacht und Wundenschläger. Narbenritzer. Deshalb einst verehrt oder zumindest respektiert.

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Wie ich schon erwähnte, war ich vor 3 Wochen unten In Konstanz. Wieso schreibt und sagt man in dem Zusammenhang immer „unten“? Weil das einem der Diercke-Atlas einst so beibrachte? Egal. Tage zuvor hatte es gebrannt in der – mittlerweile meist von Touristen gefluteten – Altstadt. Ein schönes altes Haus ward Opfer. Gebaut so damals, daß eben alles mit allem zusammenhing. Wände sich gegenseitig stützten, aber so auch gefährdeten. Keine Brandschutzmauern. Abhängigkeiten. Akzeptierte Nähe. Heute schaut man sich das wohl eher gerne an. Von außen. Hübsch. Gelle. Vorstadtbewohner, die wir alle im Kopf wurden und werden. Nicht im Zentrum hausen. Aber immer kostenfreien Zugang einfordern zu organisierten Gemeinsamkeiten. Von den ruhigen Rändern ab in die vermeintlichen Mitten. Und schnell wieder zurück. Ich schweife ab.

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Natürlich musste ich ein bisserl Katastrophentourismus betreiben. Ein alter, lange schon verstorbener, Freund hatte da mal gewohnt. Unterm Dach. Bevor ich um die wohlbekannten Ecken bog, die Gasse heißt tatsächlich „Vor der Halde“, bereit Fotos zu „schießen“, schoss mir dieser beißende Geruch in die Nase. In die Nerven. Ins Hirn. In die Ecken der Erinnerung, die dort verwaltet werden. Verkohlte Balken. Verbranntes Plastik. Zerborstene Steine. Wir waren mal abgebrannt. 1972 im Sommer. Blitzschlag. Glimpflich die ganze Familie davongekommen. Jedoch mit „nachhaltig“ nachhallenden Schäden im Gefüge. Das Gerüst, welches eh schon wacklig, angelogen, rostig, es kollabierte. Schleichend. Müde. Todgeweiht. Sich selbst aus der Not heraus beschönigend. Hat man denn eine wirkliche Wahl jenseits parfümierter Lügen? Mit immer noch nicht bewältigten Folgen, dieser stechende Geruch bleibt in meinen Synapsen gespeichert. Was mich überraschte. Aber auch nicht. Auch die Koketterie ist eine angemessene Form der Katastrophenbewältigung.

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Auf der Schauspielschule betrieben wir gerne und ausgiebig „Sense Memory“. Eine durchaus wirksame, nicht ganz ungefährliche Methode, um sich die weltbedeutenden Bretter untertan zu machen. Mancher ist auf diesem Weg dennoch erfolgreich ausgeglitten in Richtung Erfolglosigkeit. Leider allzu oft Kolleginnen. Vielleicht auch ich. Dann doch lieber vergessen statt vorwärts und ohne das Vergessen? Oder doch nicht?

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Festgestellte Zeiger allenthalben. Wer hat noch Mut die Zeiger eigenständig festzuklemmen? Herr! Diese zwei Tage noch! Auf den Berg hinauf! Zur Not mit einem Pedelec! Fragen liegen rum. Wer zuerst vergisst lebt länger? Wer zuletzt vergisst ist der Ochs‘ am Berg? Es gibt etliche Möglichkeiten sich selbst auszutricksen. Die wenigsten greifen. Soweit mal heute mich aus den geschlossenen Fenstern gelehnt. Man sehnt. Und wähnt. Als weidda.

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„Wir klemmen die Zeiger fest / Heiner Kondschak ist gestern gestorben“

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Liebe Randgruppen-Gemeinde, Wegbegleiter und aufmerksame Beobachter,

wir konnten es nicht fassen, als wir letzte Nacht die Nachricht über seinem Tod infolge eines Herzinfarktes von seiner Frau Anne per SMS erhielten. Noch letzte Woche waren wir am 6. August zu seinem 69. Geburtstag bei ihm in einem kleinen Dorf in der Nähe von Tübingen zu Gast.

Am folgenden Tag haben wir gemeinsam draußen vor der großen Scheune gefrühstückt. Er viel weniger als wir. Andreas Rogge, gelegentlicher Dudelsackspieler bei der Randgruppencombo und weltweit geschätzter Pipermaker, hatte extra Bio-Brote vorbeigebracht.

Dabei haben wir auch über das letzte Konzert der Randgruppencombo im Festsaal Kreuzberg vom Dezember 2022 gesprochen und versprochen, es endlich auf 2CD eventuell plus einer möglichen DVD mit Impressionen und vielen Interviews zu veröffentlichen. Nun wird dies zu einem besonderen Vermächtnis.

Heiner, Du fehlst schon jetzt!

Die BuschFunker in Trauer

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Gestern wurde mir vom Buschfunk obige Todesanzeige zugesandt. Ohne Heiner Kondschak, den ich schon in den frühen Neunzigern am LTT in Tübingen kennenlernte als einen beeindruckenden Menschen und Musiker und und und, wären meine zwei ergiebigsten Theaterarbeiten „Rio Reiser / Kaiser von Deutschland“ sowie „Gundermanns Tankstelle der Verdammten“ so nicht möglich geworden. Heiners Name war bei Buschfunk der Türöffner schlechthin. Dafür tieftrauriger und ewiger Dank.

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„Gott wird das ein Plansch geben!“ (Jura Soyfer / Weltuntergang oder »Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang« )

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Peratata / Kastro / Festung Agios Georgios / Kardamilli / 30. Juni 2023

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Versuch angesichts vergangener Weltuntergänge lose Enden miteinander zu verknüpfen

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„Als Dylan die Bühne betrat, streckte Hilbig seinen Arm mit der zur Faust geballten Hand wie ein Boxer nach vorn. Es sah aus, als würde er bereit sein für die letzte Runde.“ (Michael Opitz / Wolfgang Hilbig – eine Biographie)

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Gelegentlich, in letzter Zeit häufiger, stoße ich beim ziellosen Herumlesen auf mannigfaltig herumbaumelnde lose Enden. Eben jetzt bei und über Wolfgang Hilbig, der gefördert wurde, Heizer noch, schreibendes Prekariat, von Franz Fühmann, jenem Großmeister der Mythenerzählung, da beide verband die Liebe zur Romantik, Counterpart zu jenen scheinbar weltwissenden Aufklärern, ETA Hofmann und vor allem der nun von mir zu entdeckende noch, Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, tätig im Bergbau, der erschloss die Braunkohlelagerstätten in der Gegend um den heutigen Tagebau Profen, unweit Hilbigs Geburtsort Meuselwitz, der heiratete und wirkte auch in Freiberg, wohin ich mit der Gattin die erste Reise nach dem ersten Lockdown und dem Verlust aller Tätigkeit antrat, ins Erzgebirge, welches durchlöchert, durchgegraben, ausgehöhlt, entleert, befreit vom Silber, den Erzen und ließ hunderte, tausende Männer zurück in den Stollen, Wiedergänger, Gespenster, unterirdisch rumorende Geschichten.

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Wolfgang Hilbig, der aufwuchs, malochte, boxte, zu schreiben begann in jenen Meuselwitz, halb Sachsen, eigentlich aber Thüringen, mitten in den Abbaugebieten, Profen in der Nähe, wo ich im Sommer 2000 spazieren ging mit einer Liebe, in Leipzig probte ich den Teufel in einen Faust-Projekt, und wir in die gigantischen ausgebaggerten Abgründe blickten, nicht ahnend, zumindest ich, dass dies nur der Beginn war eines unendlich tiefen Falls in schwarze Gruben, ein Einbrechen, was mich 5 lange Jahre begleiten sollte und führte in diese gesichtslose Stadt, in der ich lebe immer noch.

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Jener Franz Fühmann, einer der vielseitigsten Schriftsteller und Kinderbuchautoren der DDR, der beschloss 1974 im Mansfelder Land über Bergbau zu recherchieren, er selbst unter Tage fuhr, arbeitete wie jeder andere Bergmann, für ihn der Schacht war ein Ort der Wahrheit, ein Urerlebnis, ein Tummelplatz von Geistern, die etwas zu erzählen hatten, der dann starb, gebeugt in einer kargen Schreibgarage in Märkisch-Buchholz, wohin ich radelte in brütender Hitze 2014 durch den schlingernden märkischen Sand, über sein Spätwerk „Im Berg“, Fragment, unvollendet, der Bericht eines Scheiterns und dessen Traktat über Georg Trakl, der „Sturz des Engels“, oder wie es ursprünglich betitelt war „Vor den Feuerschlünden“, ich 1991 erst in Tübingen, dann in Thüringen las und spielte als ein schwergewichtiges Solo, den Engel ich dann vergaß, bis ich ihm 2019 wiederbegegnete in Hoyerswerda, im Tagebau Welzow, da ich Texte und Bilder sammelte für meine Arbeit „Die Tankstelle der Verdammten“ über den Sänger, Baggerfahrer und Poet Gerhard Gundermann, meine letzte Inszenierung hier vor Ort unter der Fuchtel der gerne kunstfrei Machtbesessenen.

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Und immer wieder singen in all den Jahren von den Weltuntergängen, wie auch Hilbig oft umkreiste das Ende aller Enden, als stünden die endgültig letzten Erschütterungen nicht vor der Türe, sondern haben lange schon lange stattgefunden oder ereignen sich tagtäglich, unbemerkt oder Trommelfelle platzen lassend und ein Finger weist hinüber zu Jura Soyfer der, Jude, hundert Jahre ist es her und war schon damals keine Neuheit, aus Charkiw fliehen musste mit den Eltern nach Wien, landete in dieser Stadt des fröhlichen Sterbens, den Heldenplatz vor Augen und schrieb ein monströs komisches Theaterstück: Weltuntergang oder »Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang«

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Und wie sie weiter eiert durch das Universum, die Welt, welche lediglich der Planet Erde ist, krumm, schief, hechelnd, grausam, ignorant, besetzt und gefoltert von einer Spezies, die versucht ihre eigenen Geister, Gespenster, Götter, Ahnen und Erfahrungen zu ignorieren, totzuschweigen, zu übertünchen und ordinär zu schminken, aber dort wo Mondkrater aus der Landschaft gebaggert werden, wurden, atmet es weiter und die Wiedergängerin Brigitte Reimann ruft in die Nacht des Jahres 1957: „Hoyerswerda ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, daß ich den ganzen Tag besoffen herumlief.“, so hoffnungsbesoffen, wie ein jeder einmal sein sollte.

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Wolfgang Hilbig, vom nahenden Tode markiert, war überglücklich, als er am 3. Mai 2007 von Freunden im Rollstuhl in die Max-Schmeling-Halle geschoben wurde, der alte Boxer, den eine gute Freundin und Begleiterin seiner letzten Tage, Christiane Rusch, als wandelndes Bob-Dylan-Lexikon bezeichnete und mit ihm zusammen ein allerletztes Gedicht verfasste:

als sie noch jung waren die winde

war ich verworren

und blind und taub

für ihren gesang

jetzt wenn ich das land durchstreife

und nicht mehr weiß

wo ich bin

und nichts mehr wissen will

in meinem herzen

denk ich an die winde

die alt geworden sind

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PS: Eines nur bemängelte der begeisterte Dichter, dass Dylan nicht sein Lieblingslied auf die Setlist geschrieben hatte, welches ich nachreiche den Gespenstern zu Ehren.

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„Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“ (TonSteineScherben)

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Gießen / Theater / Das Team nach der letzten Vorstellung von“Rio Reiser“ / Mai ’19

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Teile heute einen Text aus dem Newsletter des Buschfunk -Verlags:

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Liebe Scherben-Kundige und Vertraute 

Auch unseren letzten Newsletter vom 30.Mai 2024 hat er zur Kenntnis genommen. Seine Frau Anne rief an und verriet, Lanrue würde sich sehr über den Banksy-Kalender 2025 (!) und den Kalender mit den ungewöhnlichsten Fußballplätzen auf unserer Welt freuen. Er hat in beiden noch geblättert und sich auf seine, für ihn typische Art darüber gefreut, so einen gewissen Schalk in den Augen.

Lanrue und Rio – zweimal Ralph. Rio war fünf Tage älter. Sie lernten sich als Jugendliche irgendwo zwischen Darmstadt und Aschaffenburg kennen. Der Ort hieß  Nieder-Roden. Der eine lernte Fotograf, der andere Dekorateur und hatte zugleich erhebliche fußballerische Ambitionen. Zeitversetzt gingen sie nach Westberlin und gründeten Ton Steine Scherben, später nach Fresenhagen (zwischen Niebühl und Flensburg).

Einmal dachte Lanrue, er müsse sterben. Der Gitarrist und Komponist der Scherben wurde wie die gesamte Mannschaft durch einen Polizeieinsatz in Berlin-Kreuzberg, am legendären Tempelhofer Ufer 32, aus dem Bett geholt. Mitten in der Nacht drang die Staatsgewalt mit gezogener Maschinenpistole in die WG ein. Das ist lange her, aber irgendwie noch präsent. 

Sehr lange hat Lanrue gegen eine schwere Krebserkrankung angekämpft. Er wollte nicht sterben. In der Nacht zum 14. Juli 2024, als würde ihn sein Geburtsland Frankreich am Nationalfeiertag zurückholen, wurde er letztlich von dieser unaufhaltsamen Krankheit befreit.

Wir sind unendlich traurig.
Wir kondolieren seinen Nächsten.
Die BuschFunker

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Schließe mich an. War eine klasse Zeit einstens, als ich mich berufsbedingt durch den Fundus der Scherben graben durfte. Hier ein schöner Nachruf.

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„There is nothing either good or bad, but thinking makes it so.“ (William Shakespeare / Hamlet / act 2 / scene 2)

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Hellas / Epiros / Anilio / 14. August 2013

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Überquellender schein, überlaufende hirne, qualen

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Auf der leeren bühne einst ein gestopfter

Socken shakespeares das lied des narren

Der regen der da regnete einen jeglichen

Tag und wäscht den staub erinnerung

Von den lustvoll knarzenden brettern nun

Aber stille gehämmert von überlautem wissen

Befreit von schwankenden geschichten über-

Tüncht von zeigefingerigen diskursen und hinweg

Gewischt was mal eine welt bedeutete den brettern

Nun vollgenagelt mit thesenpapieren hochmütig

Überrascheln penetrant wie bonbonpapiere

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Das menschenferne spiel

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Das vor leeren rängen nun und halbierten

Stuhlreihen am herzen vorbeitrudelt und beleidigt

Die hirne des auditoriums das nicht dümmer geworden

Nicht vergaß shakespeares diktum dass ein mensch

Ein guter nicht kann sein in selbstgerechtigkeit und

Herzensagonie und in den garderoben keine bierpfützen

Mehr und überquellende aschenbecher in die erschöpfte

Herzen skizzieren konnten einen ungewissen traum

Von fehlerhaftigem und hoffnung statt traktate zu versenden

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(gießen / juli 2024 / warum ich kaum noch ins theater gehe)

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Die Jacketkrone oder: „Ich bin kein direkter Rüpel, aber die Brennnessel unter den Liebesblumen.“ (Karl Valentin)

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Die Nacht von Recklinghausen / Tragikomödie des Erinnerns in 5 Akten

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Prolog:

Letzte Woche fuhr ich nach Recklinghausen. Ruhrfestspiele. Hatte mich sehr gefreut. Reise in die Erinnerungen . Die Schattenspiele. Ein auch für mich persönlich besonderes und aufreibendes Jahr betrachten. 1982. Hadere seit einer Woche damit was und wie ich schreibe davon und dann darüber. Die grundsätzliche Frage: Ist Erinnerung nicht stets ein tragikomischer Ringelpiez? Mit oder ohne Anfassen?

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Erster Akt:

Ich hatte besagtes Spiel alleine gesehen. In meiner damaligen WG am Martin-Luther-Platz. Köln. Südstadt. Schauspielschüler. Warum alleine kann ich nur noch vermuten. Vermutlich stand unsere Premiere bevor. Und unser Regisseur hatte uns Dezenz verordnet. Die meisten Spiele dieser unsere wilden Proben begleitenden WM hatten wir davor gemeinsam angeschaut. Berauscht. Oder ernüchtert. Das Unentschieden gegen Österreich etwa. Algerische Geldscheine fliegen von den Rängen. Deutschland erfindet mal wieder einen Nichtangriffspakt. Man weiß ja wo das endet. Fragt Dschughaschwili. Wenn ich das trügerische Portfolio meiner Erinnerung durchforste, ist natürlich die legendäre 57. Minute noch vorhanden, aber vor allem uns aller Lieblings-Litti, der Fallrückzieher von Klaus Fischer und der heulende Stielike. Dass da ein Breitner mitgespielt hat, habe ich erst wieder letzte Woche erfahren. Und der Schlucksee in der Vorbereitung war natürlich Thema. Wir stießen darauf an. Nachts in den Kneipen, nachdem der Express-Verkäufer uns mit den neuesten Meldungen versorgt hatte.

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Zweiter Akt:

Ich habe mich nie am deutschen Volkssport namens Bahn-Bashing beteiligt. Die Eisenbahn hat mich stets von der Vorstellung zu den Proben, dann nach Hause und wieder zu neuen Ideen und Bühnen gefahren. Gelegentlich musste ich improvisieren, aber auf der Autobahn kommt man eher selten mit Mitreisenden ins Gespräch. Es lebe der Speisewagen! Jedoch letzte Woche! Gewiss, alte, weiße Nerven liegen blanker inzwischen. Aber, nachdem der Zug ein drittes Mal auf offener Strecke stand, der Bordlautsprecher beharrlich schwieg, kein Getränkeverkauf die Synapsen entspannte, da sieht man nicht mehr rot, sondern? Nein! Nein! Nun gut, ich war früher oft im Pott unterwegs, dachte nimm dann halt die S-Bahn. Dortmund statt Essen. Oder gleich über Wanne-Eickel. Leider da eine Streckensperrung. Dann sprach man wieder mit den Fahrgästen. In Dauerschleife. Technische Störung. Technische Störung. Technische Störung. Ich dachte: reden die jetzt vom Mittelfeld der deutschen Nationalmannschaft der letzten Jahre?

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Dritter Akt:

Diese Freundlichkeit. Kaum den Fängen der Beförderung entkommen – ist dies die Entschädigung? – offene Menschen. Ein Blumenhändler, der gerade seinen Stand abbaute und mich auf Nachfrage bis zu meinem Hotel geleitete, der Hotelbetreiber, er tut dies nun in siebter Generation, erklärt mir die Stadt und wie und wo ich laufen solle, der Busfahrer Richtung Festspielhaus unterhält, da sein Gefährt noch Behandlung braucht, die Fahrgäste mit Anekdötchen und da ich im Park vor dem Musentempel sitze, auf Einlass wartend, grüßt mich jeder Passierende. Und dann die Dämlichkeit. Die übliche wahrscheinlich. Festspielhäuser stehen wohl auf Hügeln. Nicht nur in Bayreuth. Ich war früh da gewesen. Vor dem Gebäude Buden und Sitzbänke und viel Platz. Ich drehte noch eine kleine Runde im Park. Zurück. Der gesamte Vorplatz nun zugeparkt mit Dickeiermobilen. Die Politik war angekommen. Iss ja eine Premiere. Der offizielle Parkplatz zwar keine Laufminute entfernt. Leibwächter sind wahrscheinlich zu teuer. Inmitten der alten, weißen Schlipsträger – Darf man mit über fünfzig sich eigentlich noch mit Undercut in der Öffentlichkeit zeigen? –   tanzte eine ältere Dame im unvorteilhaften, groß geblümtem (Rosen!) Konfirmantenkleidchen durch die Herren. Die Stimme schrill. Deren Präsenz den Vorplatz dominierend. Kameras: Klick. Klick. Klick. Es war Claudia Roth. Den größten Lacher in meinem Rio-Reiser-Abend kassierte das Ensemble, wenn Rio der damaligen Managerin der Scherben riet, den Rock’n’Roll sein zu lassen und zu den Grünen zu wechseln. Da meine Blase voll war oder ich dies zumindest vermutete, konnte ich mich nicht mehr fremdschämen. Wir nähern uns also ungeduldig dem Einlaß und der Kunst. Habe noch nie einen „Theaterabend“ erlebt bei dem die Schlange vor den Herrentoiletten länger war als bei den Ander*innen. Es ist die Prostataangst, die uns auffrisst. Wahrscheinlich hat auch dies zu tun mit: Erinnerung.

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Vierter Akt:

Es lässt sich nicht vermeiden. Habe mich bis hier erfolglos um den Kern der Nacht in Recklinghausen herumgetippt. Feigling! Also auf zur Kunscht! Peter Lohmeyer, nicht nur damals nacherzählendes Wunder von Bern, sondern auch ein guter Mime, betritt die Bühne. Raunend. Die Bühne: ein gewollt bescheidener Tisch mit knapp zehn Mikros bestückt. Old School. Keine Werbetafeln. Im Hintergrund zwei Flutmasten. LED bestückt. Da kann man dann die Spielstände einspeisen. Und die Atmo halt. Bisserl Hazer. Für Laien: Nebelmaschine. Der Ton spielt ständig Stadiongeraune ein. Vorspiel halt. Im Hintergrund hängt eine Art von Meisterradkappe. Projektionen braucht es, wo die die Erinnerung schwächelt. Die Bilder zum Text. Die Erklärungen. Lohmeyer fängt an und liest. Der Schwabe Förster schwäbelt. Der Kölsche Schumacher rheinisch oder so. Bayrisch kann er nicht der Peter. Also ist Breitner nicht zu identifizieren. Neben mir sitzt ein Mann. T-Shirt mit Aufdruck: Müngersdorf. Mit über den Waden abgesägten Hosen. Elf Freunde? Man ist schnell im Gespräch. Man kichert rum. Do simmer mr dabei! Die Klimaanlage pustet etwas zu kühl. Dann der Versuch Lohmeyers Litti als Berliner zu gestalten. Weia again! Den damaligen Kommentator  der Fernsehübertragung näselt er indem, wenn der seinen Auftritt hat im Text, seine Hand vor seine Nase hält. Um was geht es? Der Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund hat Zitate von damals Beteiligten zu einer Textcollage zusammen gefriemelt und nennt es Theaterstück. Chuzpe. Lohmeyer jagt durch den Text. Und – weit über 70 % Textanteil – der Einlassungen der Elf der Les Bleus gestaltet er im etwas einfach gestrickten Sound der Achtziger. Entnehmen Sie diesen Züngenschlag dem unten angefügten Leedche. Alle französischen Spieler so leider nivelliert auf eine Witzichkeit. Aber ‚allo! Es ist – für mich – inzwischen unsäglich ermüdend und dennoch ist die Erzählung ergreifend und die Textzusammenstellung liebevoll. Wo war der Regisseur? Gab es überhaupt einen? Die Geschichte ist doch wichtiger als eine vermeintlich unterhaltsame Verpackung. Oder? Was hetzt den gut bezahlten Leser derart durch die Geschichte? Warum sind die ersten drei Reihen von Politiknasen okkupiert? Warum quietscht Frau Roth ständig aus der ersten Reihe rum? Hat sie damals in Fresenhagen mit Rio und Lanrue dieses Spiel gesehen? Darf man Erinnerungen dermaßen billig vergesellschaften? Wo ist eigentlich der Tünn?

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Fünfter Akt:

Alles hat – dem Schiedsrichter sei Dank – mal ein Ende. Selbst ein Scheißspiel. (Gestern Leverkusen war echt bitter!) Und dann kütt er. Aus dem Hintergrund. Aber nicht so wie einst Netzer. Ein alter Mann isser getz. Wo kommt der jetzt her? Seine Klamotten sehen so aus, als hätte er bis vor Kurzem noch in seinem Kleingarten den Schuppen aufgeräumt. Er braucht seine Zeit bis zum Tisch mit den Mikros. Setzt sich. Lohmeyer rückt zur Seite. Ehrfurcht. Die Ränge jubeln. Frau Roth steht auf. Klick. Klick. Klick. Schuhmacher schlägt einen Collegeblock auf und liest vor. Er liest vor. Ich habe mir im Vorfeld etliche Videos vom Tünn angeschaut. Stets war ich begeistert, wie locker und freudig er in alle Mikrophone dieser Welt gesprochen hat. Und nun sitzt er da, alt an Leib und Seele und seine notierten Erinnerungen wie ein unsicherer Schulbub vorlesend. Es war kein Foul. Hat der Schiri gesagt. Ich war so unsicher. Ich habe Fehler gemacht. Ich hatte einfach nur Angst. Ich hätte wenigstens zu Patrick hin gehen müssen. Aber wenn dann die Gegner durchdrehen. Wahrscheinlich war es das. Hinter mir eine ganze Alterskohorte mit den Trikots der Nationalmannschaft aus dem Jahre 1982 auf dem vorgewölbten Ranzen. Als Schumacher seine sehr bewegenden (natürlich ambivalenten) Worte verlesen hatte, springen die auf. Genauso! Bravo! Als wolle man den Krieg zwischen Deutschland und den Franzosen, der 1982 nochmal aufkochte, endlich zum letzten Sieg umdeuten. Auch Claudia Roth stand. Und neben ihr eine mir unbekannte Kultusministerin aus NRW.  Und dann verbeugte sich Harald Schumacher. Wie oft habe ich als naiver Schauspielschüler die Direktheit des Tünn bewundert, wenn der vor dem Spiel ganz Müngersdorf für sich einnahm, während ich zitternden Knies auf der Probebühne verzweifelte. Und jetzt steht der vorne an der Rampe wie ein Anfänger vor knapp tausend Minsche. Und weiß gar nicht wie man sich so verbeugen tut. Und der Lohmeyer – Schauspieler – tut so, als sei das Festspielhaus Recklinghausen sein Bernabeu. Dann wurde zur Publikumsdiskussion geladen. Die Damen aus der ersten Reihe diskutieren mit dem Intendanten über ihre Fußballerfahrungen. Die Politiker reisen ab. Ich fand eine nette Kneipe in Recklinghausen, des Pottes guter Stube. Beseelt vom Pathos des Verlierers Platini.

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Epilog:

Am nächsten Morgen fuhr ich wieder nach Hause. Von den erneuten Verspätungen gilt es zu schweigen. Nachhirnen und Bierbüchsen. Ich wusste nicht so recht, ob es sich lohnt wütend zu bleiben. Jeder Text ist ein Kompromiss. Und Erinnerungen bleiben vielleicht lieber privater Natur. Witzbold! Und weshalb wird hier rumgetippt. Gestern las ich, dass die zwei Erinnerer die Veranstaltung auch noch in Gelsenkirchen vorgelesen haben. Zwei Tage später. Hatte ich übersehen. Fehler meinerseits. Meide man besser die Premiere. Eigentlich die letzte Erkenntnis meines Berufslebens. Und jetzt sinn die och noch im Jürzenisch. Ich hann över fünfzich Üros bezahlt. Der Preis sinkt. In Kölle nur noch die Hälfte. Do simmer nit dabei. Verpasst. So ist das mit den Erinnerungen.

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