Neunzehnhundertneunzig spielte ich auf dem Theater den Genossen Stalin. Der bessere Diktator und Massenmörder scherzten wir damals. War noch möglich zu der Zeit. Selbst in der BRD. Das Stück hatte Jörg – Michael Körbl geschrieben. Gorbatschow / Fragment hieß es. Ein Gespensterreigen, ein Parforceritt durch den Großen Vaterländischen Krieg und hellseherische Trauerarbeit über die Klötze am Bein des Erlösers Gorbi et Orbi. Eine zentrale These des Stücks war Michail Gorbatschow, der dann folgerichtig nicht nur auf der Bühne sondern auch realiter am Kreuz endete, sei das Ergebnis einer geheimen Liaison von Lenin und Rosa Luxemburg gewesen.
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Damals lebte ich in Münster im Schatten der Lambertitürme und war am kleinen feinen Borchert – Theater engagiert. Und da der damalige Intendant und Freund Wolfgang Rommerskirchen gute Beziehung zur Volksbühne Berlin hatte, damals weder Ost noch West und vor Castorf, waren wir in den bewegten Tagen gerne zu Besuch bei denen und die bei uns. Unvergessen eine Taxifahrt, das war im April 1990 noch ein Privileg in Ostberlin – Entschuldigung: Hauptstadt der DDR – nach einer schwer trunkenen Nacht in der düsteren Kantine der Volksbühne, das mit den Kurzen mussten wir Wessis noch trainieren, eben in jener Nacht da Stunden zuvor Oskar Lafontaine ein Messer in den Hals gestochen wurde in Müllem zu Kölle. Und der Taxifahrer dreht sich zu uns um, die wir versuchen nicht aus dem Wartburg zu fallen und sagt im breitesten Balinarisch: „Ditte iss Demokratie, wa? Da haun se eurem nächsten Kanzler ne Klinge innen Hals und die Vopos schaun nur zu? Da könn wa uns ja auf watt freuen!“ Und wir waren schlagartig nüchterner, bezahlten einen unfassbar niedrigen Pfennigbetrag in Aluchips und hockten noch mit ein paar Radebergern, Wernesgrünern und Lübzern in der zentral überheizten Plattenbau – Gastwohnung und halluzinierten vom ewigen König Helmut. Fernsehen gab es da ja nicht, Internet war noch nicht erfunden und wir fragten uns, mit Nebel im Hirn, hat der uns jetzt verarscht der Cabby aus Easttown? So gegen 4 Uhr morgens Nachrichten im Radio, Nachtarbeiterprogramm wie das da noch hieß. Tatsache. Taxifahrer lügen nicht. Was aber nun mit der Hoffnung?
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Wie komme ich da drauf? Sah gerade die Pressekonferenz der kommenden Kanzlerkandidatin dieser morgen vielleicht auch noch Grünen und dachte, haben da Oskar und Angela einst im Hinterzimmer? Nach der legendären Elefantenrunde als der besoffen abgewählte Gerd Brioni Kohls Mädchen lächerlich zu machen versuchte? Reinkarnation? Warum nicht Sarah, der Wagenknecht? Eben spricht Laschet. Und macht den Annalenus „Hennes“ Baerbock. (Opjepass: Witz für Kölsche!) In einem Satz mit drei Worten hat der doch achtmal das Mantra „gemeinsam“ ins Mikro gelächelt. Heute Abend endlich wieder Brennpunkt gucken müssen. Wie wird Gollum Söder zurück lächeln? Mein Schatz, meiner? Wieviel Realität ist Realität? Wie haben wir uns die Simulation einer Ehe Schwarz mit Grün vorzustellen? Baden wir in Württemberg bundesweit? Nein, jetzt nicht schon wieder den abgenudelten Beckenbauer zitieren wollen. Vielleicht tritt ja Mutti gegen ihre Tochter an.
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Für obiges Foto danke ich Lukas Noll, der einige meiner Arbeiten in Gießen mit wunderbaren Bühnenbildern versehen hat. Strukturelle Konflikte sind hiermit nicht verschwiegen, gelle! Die Weltzeituhr hatte er mir im Zusammenhang mit dem Gundermann – Abend zugesandt. Danke, icke vawurste dett mal, wa! Ha, darf ich halt wieder mal Gundi verlinken.
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Hoffe uns steht nach dem Ende der Pandemie eine Zeit bevor in der sich tatsächlich was dreht. Was sagte Beckenbauer immer? Nee, nicht das mit Weihnachten. Egal. Lieber das großartige Gedicht von Jörg – Michael Körbl.
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DAS NEIN UND DAS JA
sag niemals ja denn wer ja sagt zu dem was ist tötet die zukunft
und wenn sie dich fragt ob du sie liebst sag nein und küss ihren mund
denn die wahrheit liegt sowieso irgendwo zwischendrin
Sagte der Schalk zum Dieb: „Es soll doch einen Weg geben, der hier rausführt!“
Sagte Estragon zu Wladimir: „Du sagtest, daß wir morgen wiederkommen müssen!“
Sagte Lobkowitz zu Shlomo: „Lass uns warten, Schlomo. Warten ist die wahre Zeit. Wenn man auf den Messias wartet, kommt es aufs Warten an, nicht aufs Kommen.“
Sagte Shlomo zu Lobkowitz: „Oh Herr!“
Sagte Wladimir zu Estragon: „Das sagt man so!“
Sagte der Dieb zum Schalk: „Kein Grund sich aufzuregen!“
Mischte sich Bertolt Brecht ein: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.“
Sagte George Tabori: „In der Erinnerung ist das ganze Leben ein Tag.“
Wiederholte Wladimir: „Das sagt man so!“
Also sprach Samuel Beckett: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Und Winnie starrte zum Zenit und sagte: „Wieder ein himmlischer Tag!“
Willie antwortete: „Fürchte nicht mehr!“
Wieder Wladimir: „Das sagt man so!“
Darauf Winnie mit derselben Stimme: „Was?“
Willie wurde wütend: „Fürchte nicht mehr!“
Sagte aber Clov zu Hamm: „ … Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende!“
Sagte Hamm zu Clov: „Es ist aus. Mit uns ist es aus. Bald aus!“
Sprach Godot: „Wartet nicht auf mich!“
Erzählte George Tabori einen Witz: „Hängen zwei Schächer am Kreuz. Fragt der eine: „Tut’s sehr weh?“ Antwortet der andere: „Nur wenn ich lach‘.“
Seit jetzt bald vier Wochen nehme ich mir vor an der kleinen Rückblickserie „Wenn der Anu Branco wüßte …“ weiterzuschreiben, doch es will mir nicht gelingen. Einfach fiel es mich an einen euphorischen Anfang und an die ersten Einbrüche der sogenannten Realität zu erinnern. Viel Vergessenes ploppte wieder auf. Aber den Bogen schlagen ins Heute? Geschlossene Theater zum einen und auch noch die Rente aus Altersgründen vor Augen? Schwer und auch emotionaler als ich dachte. Was bleibt? Was ging so alles unterwegs verloren? Ist es wichtig? Ist es wurscht? Ein paar Stichworte und dann wieder zurück auf die längere Bank.
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Bleiben tut nicht viel. Kaum Fassbares. Paar kopierte Kritiken. Fotos auf der Festplatte. Begegnungen auf der Straße. Das und das war toll. Gelegentlich betrunkene Weisstunochs. Wir bauen keine Stühle, Instrumente, malen keine Bilder. Ein Fingerschnipps und alles ist futsch. Das Wort. Die Aufführung. Die Schminke. Das Bühnenbild nach einer halben Stunde durch das nächste ersetzt. Das berühmte Premierenloch. Schon nach der Premierenfeier erwacht man oft und weiß eigentlich nicht mehr, warum man sechs Wochen mit etlichen Menschen in einem von oft fürchterlichen Aufs und Abs geprägten Liebesverhältnis verbracht hat. Eine Nähe zulässt, die man sich in anderen privaten Zusammenhängen eher verbieten würde. Das, was stets blieb, war der Ausblick auf die nächste Arbeit. Oft voller Freude, gelegentlich war es halt die Pflicht. Das fällt dieser Tage weg. Aus zweierlei Gründen. Radikaler Entzug also.
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Was ging alles verloren an Glaube, Liebe, Hoffnung? Verglichen mit 1982 erarbeiten an den Theatern heute 50% weniger Mitarbeiter 50% mehr Produktionen zu 50% weniger Bezahlung. So ist Pi mal Daumen die Entwicklung vor allem der letzten 10 bis 15 Jahre beschrieben. Die Politik hat als Grundvoraussetzung zur Leitung eines Theaters mehr und mehr ein abgeschlossenes Betriebswirtschaftsstudium gemacht. Den finanziellen Druck weitergegeben in die Kunst hinein. Nun, in diesen Monaten der Pandemie fällt plötzlich allen auf, daß die Künstlers in einem prekären Gewerbe arbeiten. Die Sparpolitik hat uns die Zeit nachzudenken und die Luft in den Köpfen genommen. Ein Hamsterrennen ist die Folge, oft auch noch ein uns selbst auferlegtes, die wir gerne Meister der Selbstausbeutung sind. War in den letzten Jahren oft sehr anstrengend, vor allem auch, wenn Deine Gegenüber, Augenränder bis an die Knie, die Lage weglächeln wollen.
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Andererseits: Mitleid ist das Gegenteil von Kunst. Als Don Quichote gegen die Windmühlen anrennen, meist aus enttäuschter Liebe? Macht kaputt ohne daß du die Maschine kaputt kriegst. Die lacht. Frei nach John Lennon: Theater ist das, was Du machst, während Du darüber nachdenkst, was das ganze Theater soll und warum? Und: keiner hat dich dazu gezwungen. (Außer Dein Ego womöglich!)
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Das Theater und ich waren eigentlich immer ein Paar, daß sich gerne küßte und dann schlug. Offensichtlich von Anfang an. Folgendes entdeckte ich kürzlich in meinem wiedergefundenen USA – Tagebuch von 1979. Nachdem ich nach ein paar Wochen Schauspielschule dem Vorsprechen der Absolventen zugeschaut hatte plus anschließender Feier notierte ich:
Oh, Mann, diese wahnsinnigen Kinder. Gezüchtet sich vor den Augen eines stumpfsinnigen Allesfresserpublikums aufzureiben. Träume, gekauft, injiziert, traurig und gnadenlos durchsichtig. 4 Jahre eingesperrt taumeln sie aus ihrem Gefängnis und können es nicht fassen. Aufgebaut und vollgepumpt mit nichtssagendem Applaus fahren sie, kokainschnupfend wie die Leithammel, gen New York, um berühmt zu werden. (Hoffentlich bleibt mir dieser Wahn erspart. Diese widerlichen Abgrenzungsshows, die Unfähigkeiten zu spontanen, tiefen Gemeinsamkeiten, öffentlich – oberflächliche Zärtlichkeiten, kultureller Dschungelkampf. Romantische Gosse oder Werbung, aber halt doch immer dieses verdammte Gefühl anders zu sein.)
Nennen wir es Wehwut. Die Geschichte dürfte noch nicht zu Ende sein, auch wenn es dieser Tage oft nicht so einfach ist, darauf zu hoffen. Vorläufige Conclusio: was man unterwegs begreift ist wichtig, aber wegschmeißen mag ich nie, was eigentlich der Antrieb war, als wir losliefen im Jahre 1982. Klicke auf „Ich wette nie würde er singen.“ Oben. Bis ich mich etwas ausgiebiger mit einer Rückschau in Sachen Beruf beschäftigen mag oder kann, unten ein Zwischenbericht aus dem Jahre 2006. Wie singt doch Gerhard Gundermann? „So wird es Tag! So wird es ein Leben! Wenn wir nicht wie tote Fliegen kleben an dem süßen Leim zu dem man Schicksal sagt!“
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PS: Alle Fotos zum „Anu Branco“ hat mir Google unter der Eingabe „Köln Luxemburgerstrasse 1982“ zur Verfügung gestellt. Danke dafür.
Ein kleiner Ausblick auf ein paar Fragmente des „Blumenspaziergängers“. Sie schreitet voran die Arbeit. Gemächlich.
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Psychologin
Wie meinen Sie das? „Ein ganzes Leben immer auf Gleisen!“
Mann
Schule. Mittlere Reife. Ausbildung. Führerstand. Keine Umwege. Die Gleise sagten mir und meiner Lok, wo es lang geht. Die Fahrpläne strukturierten meine Tage. Das Unvorsehbare ist der Todfeind. Wir dienen. Wir bringen Menschen vom Leben zur Arbeit zum Leben. Wir fahren auf festen Gleisen und geben den Menschen etwas Freiheit. Sie bezahlen uns schlecht und beschimpfen uns dafür. Aber das hat mir nie etwas ausgemacht. Ich liebe Struktur. Ich liebe Gleise. Ich liebe die unwahrscheinliche Kraft, die ich mit einem Knopfdruck in den Motoren meiner Maschine freisetzten kann. Das Schnurren. Das Schlagen der Schienen. Wie es sich anhört, wenn ich eine Weiche überfahre. Auf festen Geleisen. Ist das die Freiheit? Ja, die Zeit zwischen den Bahnhöfen, den Haltestationen, die gehört mir. Linker Hand der See: Hinfahrt. Rechter Hand der See: Rückfahrt. Mein See. Seine Farbenspiele. Schlag nach bei Martin Walser. (er zitiert)„Kann man, darf man einer Gegend Zärtlichkeit nachsagen? Einem See? Diese Temperaturen, Farben, Strömen und Ruhen, Wildheit und Schwere – er hat alles, einen unerschöpflichen Reichtum an Zuständen und Stimmungen.“ Das war mein Fahrtenbuch. Meine Freiheit. Und dann tritt jemand aus dem Schilf auf meine Gleise, meine Gleise, und nimmt sich seine Freiheit. Und jetzt habe ich nicht mehr die Freiheit darüber zu entscheiden, ob meine Hände zittern wie Espenlaub, wenn ich eine Lok nur sehe, mein Atem stockt, wenn der Nebel aus dem See kriecht, meine Brillengläser blutrot beschlagen. Ich muß mir ein Bild von der Freiheit der Anderen machen.
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Pastorin
Schön, daß Sie mich nicht mehr nur anschweigen.
Mann
Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Diese ganze Geschichte ist ein Baumkuchen. Schicht für Schicht aufgetragen. Von Hand. Das ganze Leben ist ein Baumkuchen. Das Problem ist, es gibt zu viele Bäcker. Und wahrscheinlich zu viele Geschichten. Geschichten, die erzählt werden wollen. Unwichtige, unwesentliche Geschichten. Aber wenn Du einmal angefangen hast zu erzählen, ist das wie Salzwasser trinken. Du säufst und säufst, bis Du einen Ranzen hast wie ein Kamel und der Durst wächst und wächst. Und wenn Dir keiner mehr zuhört, stört das auch nicht weiter. Im Gegenteil, das ist wie eine Befreiung. Keine Oma, keine Lehrer, keine unbefriedigt neben Dir liegende Frau, keine Schalterbeamten, keine Fahrschulprüfer, keine Fragebogen, keine Mikrophone. Niemand, der erwartet, daß Du irgendwann ein Ende findest. Kein Publikum. „Können Sie das bitte auf den Punkt bringen. Fassen Sie sich kurz. Was wollen Sie damit sagen? In der Kürze liegt die Würze. Kompliziert denken, einfach sprechen.“ Dieser unstete Blick auf die innere Uhr. Ungeduldig nach oben gezogene Augenbrauen. Trippelfüße. Nix da. Nix da. Nix da. Die Worte fließen durch Dich durch, fallen vor Deine eigenen Füße, bleiben liegen, stehen auf und tanzen weiter. Keine Ordner, keine Dateien, keine Festplatte. Loose ends. Keine Verknüpfungen. Keine zweiten und keine dritten Plätze. Niemand hängt an Deinen Lippen, bis auf einige Speichelfäden. Es gibt Geschichten, wenn Du versuchst die zu erzählen, ist es, als wolltest Du Gelatine an die Wand nageln. Und obwohl die Geschichte in Dir wohnt, Deine Adern von innen mit Ihrer Traurigkeit tapeziert hat, finden Dein Gaumensegel, Deine Stimmlippen, Deine Zunge keinen Ausdruck für die Geschichte. Die Geschichte bleibt in Dir sitzen und glotzt aus Dir heraus in die Welt, aus der sie in Dich gekrochen ist. Und so bleibt Dir nichts anderes übrig, als den Baumkuchen Millimeter um Millimeter abzutragen, durchzukauen und aus dem halb verdauten Brei kleine, neue, vielleicht mit der Urgeschichte verwandte Kurzgeschichten in die Welt zu spucken. Und die Portionen sind so klein und die Sätze sind so kurz, die versuchen diese Portionen in Worte zu fassen, daß kein Mensch bemerkt, daß Du sprichst. Und dann kannst Du auch schweigen.
In diesem Sommer `82 hatte etwas begonnen, oder es tat nur so, hatte begonnen, um sofort wieder zu enden. Als hätte dieser Anfang stets schon den Virus der Auflösung in sich getragen. War das zu sehen? Zu spüren? Oder ist das einfach nur normal? Ich weiß es nicht. Erinnerung verdichtet und interpretiert ja gerne. Eine Sicht vom damaligen Stand der Dinge von heutiger Warte aus.
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Möglicherweise war es der eine Tag, der wie unter einem Brennglas zusammenzufassen vermag, was ich meine. Der 1. Oktober 1982 war ein ziemlich warmer Tag, sagen mir die spärlichen Schnappschüsse meines zurückblickenden Hirns. (Natürlich habe ich meine vagen Erinnerungen googelnd verifiziert und also ja, in Richtung 20 Grad stieg das Thermometer.) In der Fabrikhalle im Hinterhof der Luxemburgerstrasse, in „unserem“ Theater, lief das Radio. Liveschalte nach Bonn. Helmut Kohl hatte es geschafft ein Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt in die Wege zu leiten. Wir Schauspielschüler, nun beileibe nicht alle glühende Sozis und Schmidtverehrer, aber in Furcht vor dem, was da auf „dieses, unseres Land“ aus der Pfalz zuwalzte, hörten gebannt zu, während wir Bühnenbild, Requisiten, Kostüme und den Text des „Speckhuts“ transportfähig zusammenklaubten. Umzug in die Schlosserei. So hieß die kleine Spielstätte des Schauspiel Köln. Für ein paar Vorstellungen hinaus in die große, weite Theaterwelt. Noch zu Hause, in Vorfreude und Sicherheit: Empörung. Flüche. Gelächter. Zynische Traurigkeit. Hamm – Brücher war mutig, stellte sich gegen ihre Partei. Fanden wir gut. Der schwarze M. und ich mußten vor der Zeit gehen. Proben für „Gerettet“ in eben jener Schlosserei. War es einer der ersten Abläufe? Ich weiß es nicht mehr. Auf alle Fälle herrschte Krisenstimmung. Normal im Rückblick. Die erste Inszenierung einer jungen Frau. Der Intendant JF., ein bundesweiter Platzhirsch, murrte. Und eigentlich wollten alle sowieso lieber vor dem Radio oder dem Fernseher sitzen in diesen geschichtsträchtigen Stunden. Mitten in die Probe platzte der Inspizient vom Großen Haus. „Die haben den Schmidt gestürzt!“ Das brüllte er von der Empore hinunter. Abbruch der Probe. Die Schauspieler wollen in die Kantine. A., die Regisseurin, protestiert. Ist rechtschaffen empört. Der Ablauf, überhaupt das Theater habe Vorrang, stünde über den Zeitläuften. Hin und her, es wurde laut und wenig später saßen wir in der Kantine, schauten fern, brauchten das ein oder andere Kölsch zur Beruhigung, als wir sahen, wie Schmidt aufstand, um Kohl zu gratulieren und der Berg von einem Mensch senkte sein Haupt wie ein Klosterschüler, voller Ehrfurcht. Geburtsstunde der Birne. In der Schlosserei wartete die Regisseurin auf uns, über den Text gebeugt, beleidigt. Es wurde einer der eher schlechten Abläufe.
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Am nächsten Tag, ein Samstag, Vorstellung „Speckhut“ an selber Stelle. Der Versuch in einem sterilen Raum (Betonfußboden, Metallgeländer, riesige Fensterscheiben, es hallte und knallte, in den Eimer sollte besser nicht gepinkelt werden, da, na ja, frisch durchgewischt) die versiffte Fabrikhallenatmosphäre aus der Luxemburgerstrasse herzustellen mußte scheitern. Genauso wenig gelang es das Vibrieren des vergangenen Sommers – die hohen Außentemperaturen erschienen wie ein letztes laues Gnadenbrot vor dem Einzug des geistig – moralischen Winters der Wende – in uns wieder hervorzurufen. Ich saß in der Maske, ließ mir die Perücke aufsetzen, war nicht mehr ich selbst. Fremdes Haar war mir gegeben, ohne Leben. Noch lange kein Profi. Gott sei Dank? Bei uns allen stieg die Aufregung, einiges an prominentem Publikum, bewunderte „Kollegen“ vom Schauspiel, Bürger der Stadt und die schlimmsten Druckvergrößerer: ELTERN!!! Und es geschah was ich in den folgenden, fast 40 Berufsjahren sehr oft noch erleben durfte (vor allem als zuschauender Regisseur): steigt der vermeintliche Druck, meist sich selbst auferlegt, rücken die Mimen nicht zusammen, vergessen Vereinbarungen und werden zu Solisten, auf der Suche nach dem Glanz, der Zuneigung, buchstabiere mir Erfolg und die Erzählung zerbröselt in unreflektierte Posen. Die Vorstellung war keine gute. Eitel. Ohne Hirn und Herz. Wir waren untröstlich. O., unser Regisseur hatte es kommen sehen und betrank sich nach der Vorstellung mit aller ihm zur Verfügung stehenden Wut.
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Die zweite Vorstellung war, wie unter Schock, um einiges näher an dem was wir erzählen wollten. Leider hat die kaum jemand gesehen. Schon gar keine Wichtigen. Aber – so brüllten die Plakate draußen – ab sofort werde sich „Leistung wieder lohnen.“ In Oggersheim wurde derweil angestossen.