bagatelle vierundzwanzig

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Ich las es seien die Bagatellen

Was man die Erinnerung nennt

Ein achtlos hingeworfenes Lachen

Das kurze Stolpern über eine Treppenstufe

Ein Schritt ins Leere dachte ich an die letzte Nacht

Der Geruch frisch gewaschener Hände

Dieses Räuspern nach einer Frage

Die zu stellen fehlte der Mut

Blieb eine Fotografie welche ich bewahrte

Ein Maler schuf danach ein Porträt skizzenhaft

Mit fremdem Auge blicken auf die verlorene Haut

Der Kirschkern Zweifel rumort im Magen

Ich spucke ihn aus mit aller verbliebenen Kraft

Er landet auf den Spitzen meiner Schuh‘

Weiter ging es nicht

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bagatelle zweiundzwanzig / aug. `99 / tangled up in slubice

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Auf dem Bahnsteig der Grenzstadt

in der ich den Maschinist mimte in Schopenhauers Salon

Setz Dich zu ihm er ist nett er ist klug er zeigt Dir die Hauptstadt

Sagte ich zu ihr und ging dann über die Brücke

Billige Zigaretten und Fusel zu kaufen der Grashalm verleihe mir die Kraft des Büffels

Man hatte mir erzählt in Slubice auf dem Markt bekomme man alles

Schnaps Frauen Waffen Drogen einen Killer nur nicht das Glück

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Abends saß ich an der Bar des Hotels draußen unwirtliches Industriegebiet

Dzevad der Schriftsteller der in Schopenhauers Salon das Gespenst von Kleist auf den treulosen Goethe hetzte

Erzählte mir von der Belagerung Sarajevos und wie sie schoßen die Nationalbibliothek in Brand

Drei Millionen Bücher starben seinen Studenten rezitierte er fortan den Faust aus dem Gedächtnis

Auf dem Hotelzimmer tranken wir die Flasche aus Slubice leer dann stand er auf und ging hinaus

Jede Nacht flog er mit den Schwarzen Vögeln über Sarajevo ohne Schlaf

Zum Frühstück sahen wir uns nochmal er müsse nun nach Hause ich möge meine Frau grüßen

Sie ist es nicht sagte ich noch

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In einer Probenpause rief ich ihren Anrufbeantworter an ob es nett war wollte ich wissen

Der kluge Dramaturg an dessen Tür ich klopfte hatte keine Zeit

Jetzt nicht wie es gestern war jetzt nicht später nein der Text müsse neu ob es nötig sei war meine Frage

Ein paar Stellen eigentlich nur Bagatellen wichtig nein aber na ja nötig gewiß die Türe schlug zu

Nachmittags standen alle mit gerußten Scheiben vor dem Theater und betrachteten die Sonnenfinsternis

Es sei die letzte totale Finsternis des zwanzigsten Jahrhunderts hieß es

Die Vögel schwiegen der Anrufbeantworter fiepte mich an

Sie las einen Brief er hatte ihr geschrieben vor halbvollen Gläsern wartend

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Vor dem Haus in dem Kleist ein Junge gewesen

auf der Treppe des Museums saß ich im Schatten blickte über den Fluß

fröstelnd am gegenüberliegenden Ufer glitzerte Slubice im Abendschein der zurückgekehrten Sonne

Ich ruderte hinaus auf die Oder mit Kleistens Kahn

Allein Henriette stand am Ufer und winkte fröhlich

Keine Lust auf Untergang rief sie ein knappes Jahr schritten wir

wohin denn noch und stießen an mit halbleeren Gläsern

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Diese Nacht halte ich ein Buch des Schriftstellers in der Hand ich hatte es nie zu Ende gelesen

Der nächtliche Rat die schwarzen Vögel machten sich bereit davon erzählt es das Lesezeichen an alter Stelle

„Die Vergangenheit ist immer da, unvermeidlich und unerbittlich, wie eine Falle, der wir sowenig entgehen können wie den Himmelsrichtungen.“

Kalter Regen trommelt Ich blicke in Dunkelheit gen Osten hoffnungsfroh

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bagatelle 18 / woyzeck genua aug. `98

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Heute Nacht kehre ich zurück in

Jenes kleine Hotel am Hafen

Unter frisch bezogenen Betten

Die Schädelstätten der Erinnerung

Blechkisten randvoll mit Fotographien

Retuschiert angekokelt zerfetzt

Ein Vorhängeschloß verwehrt Zugang

Der Schlüssel zur Rückschau

Zwischen meinen Zähnen knirscht

Die Minibar brummt

Lakritze Ramazotti ein billiger Reim

Warmes Bier und kaltes Lachen

Ein Lied ungesungen Glied

Der Verkettungen

Sag mir Deinen Text

Kannst Du schon die Worte

Tanz Franz Tanz

Wie zwei Fliegen auf den Händen

Auf ihren Lenden sie treiben es

Unter ihren Fingern glänzet noch

Der silberne Abgrund

Geht doch alles zum Teufel

Franz zahl doch schon mal

Ruft es unter der dampfenden Dusche

Die Alte an der Rezeption trägt ihr von mir

Vergessenes

Gesicht das ich nicht mehr entziffern kann

Was ist über frage ich was meine Schuld

Fünftausend Lirascheine nur

Ach Bagatellen die gelangweilte Antwort

Auf dem Nachttisch oben hinterließ ich ein Senryu

Der Falke rüttelt

Am Gürtel des Jägers hängt

Die tote Nachtigall

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Auguste R. sprach zu Camille C.

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sie verwaltete die liebe wie ihren kleiderschrank

jedes modell mehrfach erstanden

nach farben und schattierungen

fein säuberlich gestapelt

warm und wartend

bereit gelegentlich von ihr ausgeführt zu werden

oder beim nächsten umzug

durch die erinnernd seufzenden hände zu gleiten

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mit mächtigen schlägen

trieb ich maßlos worte in den stein

ihr gesicht erfror ohne antwort

täglich änderte ich meine entwürfe

unbehauen bist du nichts als

ein haufen staub

jammerte mein suff zur

mitternacht

ohne meine irrtümer

herz schrie ich

höre ich auf zu atmen

bedenke dies

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die zerbrochenen stemmeisen füllten mein kopfkissen

und so wunderte ich mich nicht

wenn ich nachts erwachte

mit zettels haupt

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ich hatte davon geträumt ein meer zu modellieren

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(oktober 2000)

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nachtwanderungen revisited

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Manchmal ist man auf der Flucht. Vor sich. Vor dem Anderen. Vor einer Liebe. Man ist bereit eine ganze Welt auf den Müll zu werfen. Um zu fliegen ohne mit den Wimpern zu zucken. Dann, der Tank leert sich so langsam, muß man wieder landen. Warnblinker zuckten. In der Not halt eine nötige Notlandung. Man nennt sie dann freiwillig. Davon ein altes Lied.

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nachtwanderungen

der schlaf hat mich plötzlich und schwer umarmt und sich genauso plötzlich und schwer davongemacht. morgens um vier besuchen sie mich: deine, meine, unsere gespenster. nicht laut schreiend und wehklagend wie die tage zuvor, nein leise, ihre forderungen nur sachte an die wände malend. du hast ihnen einlass gewährt, hast ihnen nicht die begrenzte haltbarkeit deiner gastfreundschaft klargemacht. sie klagen und kratzen an den fenstern, sie huschen durchs dachgeschoß, daß ich betrete und fühle, dort oben wohne nicht ich, nicht wir, dort oben ist noch terra incognita, heimstatt eines schmerzlichen betruges. ich höre das ferne röcheln anderer wartender. gespenster haben eine fürchterliche eigenschaft. in jedes loch fehlender klarheit nisten sie sich ein und reiben ihrer stinkenden schwänze. und aus jedem qualvoll verspritzten tropfen erwacht ein neues noch größeres gespenst, eines dessen hohnlachen noch lauter und schneidender den schlaf erwürgt. oh du fata morgana, lichtspiegelung in der wasserwüste der liebe. draußen taumeln die seemänner und wollen an land, doch die nächtlichen schweren ketten rasseln vor einer hafeneinfahrt, welche gar nicht existiert. leuchttürme, in denen alte wächter mit rum gurgeln, versinken in der flut. heute nacht ist meine haut hart und glänzend, über meinen innereien liegt der panzer der erschöpfung und ich breche auf. was bist du, eine leinwand auf der aufgeregte leichtmatrosen ihre farbreste verkleckern, eine kneipe, in der vaterlose gesellen unter die tische pinkeln, die dornenhecke, in der liebeskranke troubadoure ihren rausch ausschlafen, um morgens das blut ihrer wunden in ihre weinkaraffen zu ergießen? oder bist du einer dieser spiegel, in die man hineingreift und plötzlich sein blutendes herz in den händen hält? ich erinnere mich nicht daran, daß von den zinnen deiner burg proviantpakete auf die singenden ritter hinabfielen, ich erinnere mich nur an das rasseln der skelette, über die ich stolperte und zu deren rhythmus ich neue lieder bastelte. in deinen gemächern stapeln sich nicht abgesandte worte, seidentücher, um die sich ganze bataillone duellieren würden. und dann schickst du dein kleines kind hinaus und weinend zucken die eben noch festen knie in den sand. das morgenlicht liebkost die wahnsinnigen und die eine rose, die du gabst, zerstreut sich in alle himmelsrichtungen, eine jede faust umklammert schwitzend ein blütenblatt. zuhause, in ihren jämmerlichen hütten sitzen die wallfahrer, alte kompendien wälzend, in der irren hoffnung ihre tränen und die leblosen säfte ihrer lenden erweckten das tote souvenir zu neuem leben. ich besteige mein armes altes pferd und rauchend machen wir es uns auf einer wegkreuzung bequem. die sonne leckt meine müdigkeit und traurig erwarte ich dein lächeln. der rosarote wind trägt mir entgegen, was ich verlor, den geruch deiner ewigkeit.

(notiert im januar 2001 für x)

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PS: Für obiges Bild danke ich „Professor“ Andreas M., einst Dresden, nun Berlin.

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Alcedo atthis aka der Eisvogel

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Man kann seit ein paar Jahren wieder in der Lahn baden. Sagt man, macht es. Ich tat dies ein paar Mal vor zwei Jahren, eher aus purer Verzweiflung, als uns in jenem Sommer eine unserem nicht wirklich gescheiten Lebenswandel geschuldete extreme Hitze überfiel. Ein Freund und Wegbegleiter – ihm verdanke ich eine der schönsten Theaterarbeiten meiner Laufbahn, obwohl und wohl weil diese Arbeit nicht am Stadttheater verwirklicht wurde – und vor allem auch seine Lebensgefährtin hüpfen seit einigen Jahren zweimal täglich und dies vom späten Mai bis in den Oktober, man munkelte gar von einem frühen November, in diese – Verzeihung – doch recht trübe Flut. Sage ich, der ich in unserer Ehe den Kampfnamen trage: „Der am Bodensee Aufgewachsene.“ Hugh, ich habe gesprochen!

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„Eisvogel (Alcedo atthis) (16 cm). Klein mit großem dolchförmigem Schnabel. Oberseite glänzend blaugrün. Unterseite rotbraun. Eisvögel sitzen oft stundenlang auf Ästen oder Zweigen, die über dem Wasser hängen, und lauern auf Beute. Typisch ist auch ihr geradliniger, pfeilschneller Flug, meist dicht über der Wasseroberfläche.“

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Diesen Sommer, der nicht ganz so wahnsinnig heiß war, dafür aber von anderem Wahnsinn gebeutelt, besuchten wir, meine Gattin und ich, die zwei befreundeten und ausdauernden Lahnschwimmer ab und an am Steg des „Männerbadevereins“ – heißt wirklich so, Frauen dürfen aber auch – um zu quatschen und, von unserer Seite aus, bestenfalls mal einen Fuß in die Lahn zu stecken. Und da sah ich ihn, nach Hinweis der Schwimmer, das erste Mal. Den glitzernden Alcedo Atthis. Beeindruckender Tiefflieger.

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„Streit gab es um die Frage, ob Eisvögel auch schillern. (Können die auch goethen? Gruß und alles Gute im Neuen Jahr. Euer Säzzer!) Schillerfarben sind solche, bei denen die Farbe sich mit dem Blickwinkel ändert. Paradebeispiele sind die Pfauenaugen oder auch die als ‚fliegende Edelsteine‘ bewunderten Kolibris. Für den irisierenden Effekt verantwortlich sind geordnete Nanostrukturen aus Melanin. Sie liegen in den Federstrahlen, die von den Federästen abzweigen. Einen echten Pfauenaugeneffekt zeigt der Eisvogel nicht – also auch keine echten Schillerfarben.“

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Seit Beginn der erneuten Schließrunterphasen Anfang November gehe ich täglich spazieren an der Lahn, da gibt es einen der wenigen Orte in Gießen, wo man ein bisserl weiter gucken kann. Übers Wasser. Siehe Foto oben. Manchmal scheint sogar hier die Sonne. Und bei jedem zweiten bis dritten Besuch iss er da: der Eisvogel. Glitzert vorbei auf Augenhöhe. Gestern, zum Jahresabschluß, saß er auf einem Pfahl, geschlagene zwei, drei Minuten und beobachtete mich aufmerksam, der ich auf das trübe Gewässer blickte und das alte Jahr an mir vorbeirauschen ließ sinnend und er schillerte und goethete. Wunderbar. Mein Freund behauptet, es gäbe mehrere Eisvögel an der Lahn. Ich glaube, es gibt nur den einen Alcedo atthis mittelhessensis.

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Ich kannte den Eisvogel bisher lediglich als Etikettentier des Bieres aus Lich. Schrieb einst mal sogar ein Lied über dieses Getränk. Da unten noch der böllerbefreite Mond der letzten Nacht. Prost Neujahr.

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