Oh, it’s a long, long while / From May to December / But the days grow short / When you reach September / 08

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Gießen / An der Lahn / September 2023

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Manchmal setzen dich die Kreisel, welche ein fremdes Leben vollführt, zurück auf’s eigene Lebenskarussell. Was für eine seltsame Zeitreise gestern Abend vor der Glotze ich mit Rudi Völler erleben durfte.

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Sommer 2000. Wiesbaden. Meine damalige Gefährtin, Schauspielerin mit allen Fasern ihres Leibs und Herzens, arbeitete sich den Arsch ab am Staatstheater Wiesbaden. „Me too“ war noch nicht erfunden. Ich hatte gerade in Leipzig ein wildes Projekt absolviert und nach drei turbulenten, auch oft unlustigen Jahren einer Fernbeziehung Köln – Hessen, war der Entschluss gefallen zusammen zu ziehen. Nach Mainz also. Kloppo kickte dort noch. Ich saß nun oft, der Dinge harrend, in Hessens Hauptstadt meist in einem der innerstädtischen Biergärten und guckte EM. Auf kleinen Bildschirmen noch. Größer war aber auch der Fußball nicht, den das damalige Team unter Ribbeck, den Erich, vor sich hinrumpelte. Das Jahr in dem ein deutsches Vorrundenaus erfunden wurde. Ich ahnte noch nicht, daß auch mir ein solches bevorstand. Baldigst. Und ohne Abfindung.

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Dann ein sehr heißes Sommerende in Mainz. Ich renovierte, fast schon tobsüchtig, eine riesige Wohnung über zwei Stockwerke. Mit Sauna, Balkon, Dachterrasse, Jacuzzi und und. Die geliebte Schauspielerin probte an neuer Wirkungsstätte. Junger Regisseur. Wieder lebte ich in einer Fernbeziehung, diesmal in geographischer Nähe. Rudi hatte die Elf übernommen und ich saß, farbverschmiert, schwitzend, erschöpft vor der Glotze und die eben noch Lahmen waren aufgestanden wie einst Lazarus und fiedelten Spanien ab. Jetzt wird alles gut, dachte der ewige Bub in mir, der gerne den Ausgang einer Kickerei zu einer Art Zukunftsprognose „hochsterilisierte“. Ihre Probe dauerte zu lange und meine Euphorie war in einen traurig aggressiven Suff gekippt, als sie nach Hause kam, anderweitig euphorisiert. Es ist kein glücklicher Stern aufgegangen in der Nacht. Wenn, dann war es der Kampfstern Galaktica. So landete ich nach heftigen Gefechten in Gießen.

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Und gestern, die Frau die mir seit etlichen Jahren auch mal die Flügel stutzt, damit ich weiterfliegen kann, lag schon im Bett, staunte ich, vom Deja vu geplättet, wie schon wieder die Lahmen und Blinden des letzten Samstags sich über das Dortmunder Grün arbeiteten. Können die jetzt fliegen? Zumindest in Ansätzen? Fast meinte man Freude in ihren Augen zu erkennen. Und nun? Wenn Tante Käthe nicht weitermachen will: ich wäre für den General aus den Niederlanden. Was iss mit Loddar? Die Jugend benötigt wohl gerne klarere Ansagen. (Triggerwarnung: Ironie!)

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Wir werden alt und sind’s doch schon und sehnen uns zurück nach Zeiten, in denen wir meinten die Veränderung noch in eigener Hand zu halten wie das schwächelnde Glied. Pustetorte. Wir werden verändert. Wie Lou Reed zum September Song präludiert: Als es Zeit wurde, kreuzte sie meine Pfade.

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Wo ist die Zeit? / Auch Eisenfuß stirbt

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Dorftaverne / Stavros / Ithaka / Hellas / 7. Juni 2023

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Erhielt heute eine Mail von einem Fachmann in Sachen Erinnerung. Horst Dieter Höttges sei gestorben. Gestorben wird dieser Tage auf der Welt und im Umfeld wie blöde. Manchmal hängt persönlich oder generell an der Leich‘ Erinnerung. Vielleicht gar ein Prinzip. Welches man, sich erinnernd, meint zu vermissen dieser Tage als wertvolles. Mal ohne, mal mit Anlaß.

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Man verzeihe mir den Ausdruck „die Leich‘“. Jedoch ist die wienerische Sicht auf den Gevatter mir eine recht nahe. Gesturbn wern muaß. Wird da gesungen. Oder wie man im Stephansdom lesen darf: „Optima philosophia et sapientia est meditatio mortis.“ Was heißt: »Es ist die höchste Philosophie und Weisheit, sich den Tod vor Augen zu halten.«

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 Zurück zu Horst Dieter Höttges. Allein der Dreiklang dieses Namens. Wer kennt noch einen Horst unter 50? Gar einen Dieter unter 40? Und einer namens Höttges würde dieser Tage bestenfalls in Atzbach oder Prignitz oder auf Pellworm kicken dürfen. Ich saß also neben Vattern auf dem Sofa. Der Fernseher, pünktlich zur WM 1966 erstanden, grieselte vor ich hin und ab und zu, wenn der Argentinier oder Spanier und – Verzeihung! Triggerwarnung! – der „Uru“ oder gar der „Iwan“ sich dem deutschen Strafraum näherte, fegte ein langgestrecktes Bein den Stürmer vom Rasen. Das Bemerkenswerte, was ich dann später auch in den kurzen Sportschau – Ausschnitten der Bundesligapartien sehen durfte, der vom sogenannten Eisenfuß kurzzeitig aus dem Spiel Genommene wälzte sich nicht am Boden rum, nach dem Nebenrollenoscar schielend. Er stand auf. Machte weiter. Das ging recht flott. Frisuren waren nicht zu richten, vielleicht die Stutzen hochzuziehen. Selbst der Bomber und uns Uwe nahmen es gelassen. Ein ordentliches von den Beinen geholt zu werden war da noch keine Majestätsbeleidigung. Und weil Höttges auch nur den Ball im Blick hatte – meistens – und nicht die Knochen des Gegners, gab es auch keinen Grund hyperventilierend zum Schiri zu stürmen und Vergeltung zu fordern. Mit dem ewig erhobenen Arm. Die sogenannte „Joshua Neuer – Geste.“

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Vielleicht stirbt das für mich mit einem wie Höttges: Duelle, Konflikte, den nicht zu vermeidenden Zusammenprall (Dig the Interessenkonflikt!) fair auszutragen und nicht gleich ins Netz oder gar zum Kadi zu rennen. Die großen und kleinen Panzer losschicken zu müssen. Und rumzujammern. Auf der Suche nach der einen großen Gerechtigkeit, die nichts anderes ist als den eigenen überlaufenden Suppenteller stets voll wissen zu wollen.

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Höttges hatte sich wohl – wie ich las – schon seit langem in die Demenz verabschiedet. Vielleicht gibt es eine Form der kontrollierten Demenz. Nichts verdrängen. Nichts ausklammern. Sondern einen starken Filter der durchgeknallten Welt, die auf den eigenen Strafraum zustürmt, entgegenzuhalten. Und wenn nichts anderes hilft den Eisenfuß aktivieren.

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Eines hatte der Horst bestimmt nicht. Ein Eisenherz. Was natürlich auch wiederum Spekulation ist. Oder meine Erinnerung an meine Erinnerungen. An diese Leich‘ erinnere ich mich mit Freude und Respekt. Zurück zu Bob!

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Wo ist die Zeit? / Boomer entboomern Boomer or Don’t bogart that reactor!

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Und dann kommt alles auf einmal auf den Boomer eingestürzt. Er wird alt, nicht mehr geliebt, sein Therapeut rät ihm sich dem Bedeutungsverlust („Nehmen Sie sich ein Beispiel an Oliver Kahn!“) offensiv zu stellen, seine Eier daher weicher zu dämpfen, Smartphone inhalierende Jungschönheiten würdigen ihn keines Blickes, beleidigen ihn nicht mal mehr und dann stellt der Robbi auch noch, nach Angies Maßgabe, die Atommeiler ab. Endgültig und trotz Kubicki und seiner fidelen Sylter Jungschar. Dabei hatte das Zeugs doch einst identitätsspendendes Potenzial. Über jene Jahrzehnte zwischen Wyhl und Gorleben. Andererseits aber? Keine „Nukes“ mehr, Leute? Wie hätte denn uns Bruuuuuce derart overloaded über die Bühne hüpfen können ohne Brennstäbe im Allerwertesten? Und wie bitte wurden die meterhohen Marshalltürme der verehrten Gitarrenniddler beheizt? Mit veganer Grillkohle? Genau. Es ist nicht fünf vor Zwölf, sondern schon Viertel vor drei und deshalb flieg ich jetzt mit Ryan – Air nach Dings. Oder ins Häusle auf Jamaika. Egal! Und überhaupt: wie krieg ich jetzt den Kleber mit der roten Grinsesonne vor gelbem Hintergrunde von der Heckklappe meines Volvo V90 Cross Country weg? Des dauert wahrscheinlicher länger wie mer braucht, um die Jungspunde vorm Elbtunnel von der Fahrbahn zu flexen. Au! Sorry! Da isch mir einer rausgerutscht. War it so g‘meint! Aber die letschten drei Meiler mal in Ruhe lassen einfach? Der Pole und der Franzos machen des doch auch und mehr. Also ich sag ja nur. Warum schwätz ich jetzt … also schreib plötzlich südlich? Ah: Kretschmann! Der hats kapiert, der Grüne Benz, also wie mer Eier weich kocht und so tut als wär mer der Titan. Aber jetzt was anderes, also: des toppt alles. Der Lauterbach, der sich mit salzfreiem Pfefferminztee ins Delirium jubelt und so als Tischtennisball oder als Weißer Hase reinkarnieren will, hat ein Gesetz gemacht. Das Gute – Laune – Law oder Sow. (Apropos: des wird nix mehr mit der Eintracht dies Jahr! Der Säzzer!) Man darf jetzt kiffen. In Maßen zwar, wie es der kunstseidenen Republik angemessen ist, aber man darf es. Fünfundzwanzig Gramm am Tag. Aber nur zweimal im Monat. Und drei eigene Pflanzen anbauen auf dem Balkon oder im Kofferraum von meinem Volvo. Toll? Nein und nein! Das ist der Skandal, der wahre. Da wird dem Boomer, der selbst als Pensionsbezieher sein revolutionäres Ein – und Ausatmen über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus bewahren konnte, der Dolch der Spießigkeit ins daueremphatische Herz gerammt. Legal kiffen? Ist doch was für Smartphone – Beauties. Also mit der da hinten … Hä? Was hat sie gesagt? „Boomer! Bitte! Zieh Dir das T – Shirt aus!“ (Hechel! Hechel! Gerne! Gerne!) Reichtum verzeiht so manche Peinlichkeit. Lieder aber bleiben.

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Wo ist die Zeit? / Katsche wird 75

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Gedicht für Georg Schwarzenbeck

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Zwei Beine, ohne Interesse an Genialität,
vereinfachter Mechanismus, nichts
Brasilianisches,
kein Sternenlauf, kein Jubel in den
Fußgelenken,
Standbein, Schussbein, nichts für
Genießer,
und trotzdem einer, dessen die
Menschen,
die ihn spielen sahen, gedenken.

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Ein großer Dorn, der stach und dicht
hielt,
der die Anstürmenden ersaufen ließ, das
Feuer zertrat,
das sie bereit waren zu entfachen.
Nichts da,
ich arbeite, ich komme aus der Vorstadt,
ich bin geboren für das Einfache.
Nicht einmal
Siege sind es am Ende, die zählen.

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Unzuständig für alles Künstlerische!
Kein Dribbling, kein nie gesehener
Trick,
stattdessen Luft für neunzig Minuten,
und notfalls
für die Verlängerung, wenn die Kollegen
Krämpfe quälen.
Merkwürdig, daß so einer, eckig wie eine
leer gegessene
Pralinenschachtel, etwas trifft, das rund
ist.

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(Wolf Wondratschek)

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Wo ist die Zeit? / Ich steig‘ herab herab

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Unlängst traf ich ein liebes und sehr geschätztes Mitglied der Vereinigten Gießener Kulturrentner auf der Gass‘ und man sprach über dies und das, die neuesten Toten und dass ich ja unlängst hier Herrn Jeff Beck sehr abgefeiert hätte. Wurde selbstredend anders und besser formuliert, aber vielleicht verirrt sich ja auch mal ein junger Mensch in diesen Blog.

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Abfeiern, wie man oben sehen und hören kann, das tun und taten auch gerne andere. Selbst Keef fragt fast schon um Erlaubnis, ob er mitklampfen darf. Ronnie, der offensichtlich den selben Friseur wie Mister Beck hatte – Man verzeihe den Altherrenwitz! – vermittelte. Soweit die Quellenlage.

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Unten der herrlichst klare Song in der Fassung, in dem ich ihn das erste Mal hörte. Live. Mein erstes Konzert. Im Konschtanzer Konzil. Nicht zwischen 1414 und 1418, eher 1972 glaube ich. In den historischen Hallen traten zu der Zeit im Wesentlichen Mäschkerle und Fasnetschwätzer auf. Und man musste auch brav sitzen bleiben während des meinen noch sehr unschuldigen Arsch bewegenden Konzerts. Persönliche Zeitenwende. Die – so wurde sie genannt – Geistin und ich gingen dann getrennt nach Hause. Anderntags warteten Mathe und Chemiearbeit.

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PS: Poste dies selbstredend in der Absicht den Goldenen Schlammbweiser in der Sparte Memorabilia maxima abzusahnen. Habe gehört dieses Jahr wird er am Aschermittwoch vergeben. Oder doch erst an Allerheiligen?

Wo ist die Zeit? / David war Goliath / Von den Erinnerungswettbewerben statt der Leiche die Ehre zu erweisen

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Der Beginn dieses Jahres hält etliche Tote bereit. Vor allem für die Mitglieder meiner Alterskohorte. Böse Enkel nennen uns gerne Boomer. Die anderen Bösen nennen uns einfach nur Berufsjugendliche. Und? Ach!

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Hast Du schon gehört? Meine ersten feuchten Träume sturben gestern! Hä? Lollo! Bitte? Hast Du überhaupt noch Feuchtigkeit in Deinem Restleben? Oder Antworten? Genosse? Samstags schlurft es über den Markt. Verzeihung, man schlendert humpelnd und sucht erinnernd ein Sprechen gegen die Einsamkeit. Hast Du schon gehört? Der Davie Cosby. Ach!

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Wenn Du gehst, dann stirbt auch ein Teil von mir. Und der andere Teil bleibt hier. Wer hat das nochmal gesungen? Weiß nicht mehr. Wenn das Ende sich heranschleicht, beginnt man wohl in Schlagertexturen zu denken. Ach!

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Lassen wir sie sterben. Unsere hüftkranken Erinnerungen. Sie tun es eh. Manchmal ist es an der Zeit. Öfters auch zu früh. Dennoch aber: Ach!

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Was ist mühsamer? Zu wissen, dass ein Gegenüber von David Crosby nur gelesen hat? Gestern gar? Oder dass in jedem Printmedium vom „Mann mit dem Walrossbart“ die Erzählpaste kopiert wird? Oder dass selbst Jens Riewa mir tagesaktuell einen von Woodstock erzählen muss? Ach!

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Oben ein Schweigen, welches vor sich her singt. Mitwirkende u.a.: Phil. Jerry. Gregg. Joni. Neil. Elliot. Jack. Graham. Mickey. Bill and Paul und Grace. Die gute alte Vornamenvertraulichkeitsvortäuschung. Die beste Pizza bei meinem Giovanni. Hans macht mein Fahrrad. Ich habe noch Freunde. Ach?

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Unten noch weniger Worte die gesungen. Da war doch wer? Bin ich mir sicher. Heißt es. Reicht doch. Lassen wir die gehen, deren Zeit abgelaufen und verwechseln sie nicht mit … tja … mit was auch immer. Ach!

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Die nächsten Erinnerungswettbewerbe werden wir aber auch noch bestreiten müssen. Die Niederlagen jedoch sind alle mit einkalkuliert. Ach!

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Wo ist die Zeit? / Jeff Beck war besser

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Die Gitarrenvergöttlichten. Irgendwie lief Jeff Beck da gerne unter dem Radar rum. Warum nur? Da es die nächsten Tage weiter regnen werden soll und die Wasserstände ordentlich steigen werden, hat man ja Zeit und bleibt besser in der dann doch gut beheizten Wohnung. Zumindest der Rentner in mir. Obwohl der gerne fröstelt. Hören wir ein erstes Lieblingsalbum. Oben.

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Und dann das noch. Von Kölle zurück nach Konstanz. Eine lange Zeit lang dort in Dauerschleife genossen. Jenes unten. Und wer will: Miami Vice.

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