Nachklapp eig’ne Sach‘ / Fremder Reim

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Hatte letzten Sonntag eine sehr schöne Lesung hier vor Ort. Mit Texten des eigentlich verschwundenen aber noch aktuellen Wolfgang Borchert. Hundert wäre er geworden dieses Jahr. Theoretisch. Ich mag ja eigentlich keine Jubiläen und Jahrestage, aber das war es wert. Fast vergessene Texte die immer noch abrufbar sind. Und seine Lyrik kannte ich bisher noch nicht.

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Was bleibt aktuell an Borchert? Die Lernfähigkeit der Menschen versus die Verdrängungsmeisterschaft? Das dicke Grinsen der Krisengewinner versus die Ohnmacht der Abgehängten? Die laut tönenden Schuldigensucher versus die Übernahme von Verantwortung? Der fette Ranzen versus das Hungerödem? Die alten Fragen versus das alte Schweigen? Denke wohl ja!

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Hier ein Gedicht von Wolfgang Borchert, welches ich gestern nicht vorlas, welches aber von kompetenter Stelle vermisst wurde. Das Nachklappen.

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Das graurotgrüne Großstadtlied

Rote Münder, die aus grauen Schatten glühn,

girren einen süßen Schwindel.

Und der Mond grinst goldiggrün

durch das Nebelbündel.

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Graue Straßen, rote Dächer,

mittendrin mal grün ein Licht.

Heimwärts gröhlt ein später Zecher

mit verknittertem Gesicht.

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Grauer Stein und rotes Blut –

morgen früh ist alles gut.

Morgen weht ein grünes Blatt

über einer grauen Stadt.

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Es regnet und regnet all dieser Tage. Also immer dann, wenn ich vor die Haustüre trete. Ich hatte vor ein paar Tagen den Regen ja noch gelobt. In Maßen selbstredend. Dürfte ich wählen zwischen ertrinken hier oder verbrennen dort, tja watt? Die Natur reagiert zur Zeit weltweit wie ein schlecht gelauntes Rodeopferd. Wirft uns einfach ab. Noch ein Gedicht.

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Regen

Der Regen geht als eine alte Frau

mit stiller Trauer durch das Land.

Ihr Haar ist feucht, ihr Mantel grau,

und manchmal hebt sie ihre Hand

und klopft verzagt an Fensterscheiben,

wo die Gardinen heimlich flüstern.

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Das Mädchen muß im Hause bleiben

und ist doch grade heut so lebenslüstern!

Da packt der Wind die Alte bei den Haaren,

und ihre Tränen werden wilde Kleckse.

Verwegen läßt sie ihre Röcke fahren

und tanzt gespensterhaft wie eine Hexe!

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Heute scheinen mir die Städte nicht mehr grau, sondern in hysterisch bunten Farbtöpfen ersoffen. Die Blätter eines nächsten Morgen sind schon länger welk geworden. Die Hoffnung färbt sie nimmer mehr grün. Die Zecher aber gröhlen weiter. Gott sei’s gedankt. Mögen auch manche Rentner müde protestieren. Morgen früh ist alles gut. Verknittert.

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Immer wieder Sonntags …

… ein kleines Stück Dylan zum Frühstück

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Seit ein paar Wochen jeden Sonntag – ok, fast jeden Sonntag und wenn ich Lust und Zeit habe und nicht meinen Gemüsegarten gießen muß – ein kleines Stückchen Bob Dylan zum Frühstück. Oder Abendessen. Frisch verwurstete Texte. Oder altes Material. Eigener Mist. Fremder Mist. Fundstücke. Auch altes Brot muß man essen können ohne zu würgen. Auf geht’s. Fast jeden Sonntag. Fast ist mehr als nüscht. Dieses Lied mag ich.

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In jedem Sandkorn

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In der Zeit meines Bekennens, in dieser Stunde tiefster Not

Als die Tränenpfütze zu meinen Füßen jeden neuen Samen ersäufte

Gab es diese absterbende Stimme in mir die versuchte Gehör zu finden

In großer Gefahr ich, mich abrackernd, Moral suchend in Verzweiflung

Habe ich keine Lust all meine Fehler durchzukauen

Wie Kain, das Joch meiner Missetat um den Hals, zerschlage ich es lieber

Selbst im Moment größter Wut sehe ich die Hand des Meisters

In jedem zitternden Blatt, in jedem Sandkorn

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Oh, die Blüten der Schwäche und das Unkraut Nostalgie

Wie Verbrecher würgen sie mein Gewissen und was mich jubeln ließe

Das Sonnenlicht knallt gnadenlos auf meinen Weg

Lindert die Schmerzen meiner Bequemlichkeit und die Erinnerung an meinen Verfall

Vor meiner Türe brennt die wütende Flamme Versuchung in die ich blinzle

Jedes Mal, wenn ich mein Haus verlasse, höre ich, daß jemand meinen Namen ruft

Und irgendwann auf meiner langen Reise begriff ich

Jedes meiner Haare ist nummeriert wie jedes Sandkorn auch

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Mein Leben: vom Tellerwäscher zum Millionär, vergrübelte Nächte

Gewalttätige Sommernachtsträume, Zittern im fahlen Winterlicht

Bittere einsame Tänze, abgehoben durch das Weltall segelnd

Blicke ich ahnungslos in zerbrochene Spiegel, all diese vergessenen Gesichter

Ich vernehme die Schritte der Altvorderen wie Wellen die an den Strand schlagen

Ich drehe mich um, manchmal ist da wer, manchmal bin ich es nur

Ich sitze in den hin und her pendelnden Waagschalen allen Lebens

Wie jeder Spatz, der vom Himmel fällt, wie ein jedes Sandkorn

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bagatelle neunundvierzig / von zukunft

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damals als die geträumten zukunften

dieser republik einen mercedes 600 befuhren

mußte man sich diesen mit ludwig erhard teilen

willy brandt scharrte im kofferraum

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heute bleibt uns ein cinquecento

gebaut von

so sangen wir in den überheblichen jahren

nudelverzehrern

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beim einsteigen bitte aufpassen

alte vermeintliche größe

kann beim einsteigen den rücken beschädigen

dauerhaft

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die sirenen schweigen schon länger

das land legt seine ungeduldig zuckelnden

hände in den schritt

heimwerkelnd

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bagatelle achtundvierzig / nichts tun

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wenn die tage weniger werden

scheinen sie zu gewinnen an

gewicht kaum zu heben sind diese

morgens als wollten sie

entgegenrufen dem maladen rücken

nimm mich nicht leicht

verschwende mich nicht

ernte

und bleiben verborgen hinter mauern

die ich nicht überklettern mag

die tage verstreichen

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Die Frage des Tages: Darf Dusty Hill in geweihter Erde versenkt werden?

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Ganz davon abgesehen, daß ich mich immer gefragt habe, wie die zwei Texaner es vermeiden konnten, daß sich ihre Barthaare in den Saiten verfingen, werden viele – auch ich – lange Zeit gar nicht gewußt haben, wovon die Herren in obigem Lied eigentlich singen. Ganz einfach ist es.

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„Herr, fahr mich bitte in die Stadt. So viele Wünsche habe ich doch nicht. Mir ging es oft gut, dann ging es mir wieder so richtig Scheiße. Ich war hier und dort ja auch gerne mal ein Arschloch. Aber auch immer mal wieder ein netter Kerl. Doch heute Nacht, in der Stadt, da suche ich nichts, nichts anderes außer einen Hintern (m/w/d?). Vor allem aber Herr, da ich dann nach Hause muß, unter Deiner Führung, bitte nicht allein. Mmh, geht das?“

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Wie böse die Welt damals doch war. Und heute? Macht man das nicht mehr?

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bagatelle siebenundvierzig

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an manchen tagen

wenn ich wie ein käse ohne rinde

liege auf dem teller leben

in mir nagen die maden

die löcher gefressen heute

werden geflutet mit wut

tröstet lediglich der sonnenuntergang

oder der stich eines insekts

ein anderes jucken

außenhaut

ablenkung

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PS: Oben der Blick von unserer Gemüseparzelle ins Umland. Das hilft.

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PS2: „Du Sohn eines Regenwurms und Enkel einer kreuzlahmen Spinne, möge ein Kaktus in Deinem Bauche wachsen und eine Rattenfamilie mitten in dem Käse wohnen, den du zu deiner Abendmahlzeit erkoren hast.“ Diesen Fluch des guten alten Hadschi Halef Omar undsoweiter sandte mir ein treuer Leser meiner hier veröffentlichen Gedanken zu. Werde ich auswendig lernen. Man weiß ja nie!

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PS3: Dann aber denn auch noch. Manchmal ist googeln schon lustig. „Schweig, Du Sohn einer Hündin! Deine Zunge hängt voll Lügen, wie die Nessel voll von Raupen. Du verbreitest Gestank und streust die Krätze umher, kein Mensch sollte mit Dir sprechen.“ Wird auch auswendig gelernt. Die Welt braucht mehr kreative Flüche statt ständiger und vorauseilend verängstigter Selbstzensur.

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PS4: Das muß dann aber auch. Unfassbare Köstüme. Unfassbare Choreographie. Aber diese Naivität und unbedenkliche Freude am Leben würde glaube ich dieser Tage sogar Frau Baerbock gegen ihre Gegenwart eintauschen wollen. Korrekt?

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Danke sehr, lieber Helge Schneider!

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Besser kann man es nicht ausdrücken. Der stadtbekannte Abonnent, der vergißt sein Hörgerät abzuschalten. Seine Gattin, die mit schwerer Bronchitis bei der Premiere nicht fehlen will und wenn sie eben nicht hustet, geräuschvoll ihre Bonbons ausknistert. Der Geschäftsmann, der sein Smartphone anlässt, um dann – der eine wichtige Anruf ist es wohl, sich – während ich auf der Bühne sterben muß – durch die Reihen nach draußen drängelt. Die Tür fällt geräuschvoll ins Schloß. Das Schnarchen in der ersten Reihe mit offenem Mund, in den ich meine Verse singe. Die Hälfte des Magistrats, die ihre Freikarten für die Premiere verfallen lassen. Meine Freunde bleiben deshalb zu Hause. Warteliste ist ja keine Garantie. Nicht zu vergessen die besser betuchten Bekannten, die Freikarten als eine Selbstverständlichkeit erachten. Klar, wir sind Hofnarren, wir werden oft bezahlt mit öffentlichem Geld, aber man stelle sich vor, ich beträte ein Büro, setzte mich eben mal auf den Schreibtisch, nähme dem Mauer die Kehle aus der Hand, labberte den Lokführer voll oder spuckte dem Koch in die Suppe und forderte das Schnitzel für lau. Nur weil ich ihn halt kenn. Der Künstler nun sitzt ergeben auf freiem Felde und dankt den Geiern, die über ihm kreisen. Muß er? Singen wir nur noch für die Smartphones?

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Natürlich gibt es – die Mehrheit – die, welche zuhören. Sie schrumpft aber, jene Mehrheit. Es werden mehr und mehr wie die Kids im Kindertheater, welche nicht mehr zwischen Bildschirm und Leben live unterscheiden können. „Bespaße mich, Äffchen! Wichtig ist mein eigener Schrei! Den zu hören! Oder auf der Videoleinwand zu sehen.“ Man will aber nicht nur belustigen, sondern Geschichten erzählen. Erinnere mich an etliche Dispute, wo Menschen sich darüber echauffierten, daß Bob Dylan nicht zum Publikum spricht. Warum hören sie nicht einfach zu? „Was machen Sie eigentlich so tagsüber?“ Ich gehe jetzt in die Maske und lasse mich abschminken.

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Unlängst sang ich ein für die Stadt Gießen geschriebenes Lied (Thema: was bedeutet Arbeit für uns? Jetzt, später und überhaupt!) – nach fast acht Monaten wieder vor Menschen – und während ich dies tat, saß in meinem Focus, wenige Meter vor der Bühne, der Moderator der folgenden Diskussion zum Thema. Eben Arbeit. Sein Blick war gesenkt in seine Unterlagen, Papierrascheln, er steht auf, versucht leise durch den Saal zu gleiten, man weiß ja, das sind dann die Lauten, quatscht mit dem Kameramann, zurück zum Platz, raschel, raschel. Ich mach weiter, leider? Aufgeregt war er wohl, der arme Kerle. Im Tunnel, wie man so schön sagt. Wieso verlegt er den Tunnel nicht vor die Türe, sondern gräbt ihn zu meinen Füßen? Kaum bin ich fertig, hüpft er behende auf die Bühne, steht zappelig rum, während ich mein kleines Equipment abbaue, sagt aber nix, trippelt vor sich hin, offensichtlich genervöst. „Wann ist das Äffchen endlich weg?“ Nun gut, ich hatte gearbeitet, während ich sang und spielte, auch wenn das dem geneigten Publikum gerne nicht auffallen will. Dann begann die Diskussion. Man disputierte über Wertschätzung von Arbeit. „Hätten Sie halt was anständiges gelernt!“ Vielleicht hat das Finanzamt recht.

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Danke nochmals, bester Helge Schneider.

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PS: Schon lustig! Helge Schneider bricht ab, Quersängerin Nena wird abgebrochen. Tja, die vielen Varianten der vielen neuen deutschen Freiheiten.

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Immer wieder Sonntags …

… heute ein kleines Stück Patti Smith zum Dinner

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Habe eben noch mal den Text von gestern überarbeitet und hörte dabei – nur im Kopp – Patti Smith. Klar, Jesus starb für die Sünden anderer, aber nicht für meine. Die ständigen Fragen halt. Zumindest meine Fragen. Was ist Sünde? Was ist Verantwortung? Gibt es Sünde? Darf man töten ohne zur Verantwortung gezogen zu werden? Ist Schulterzucken der neue Kant’sche Imperativ, kategorisch. Müßten wir wieder mal, uns selbst aufklärend und dies auch zulassend, zuhörend, den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit suchen? Von der Vernunft reden? Auch oder gerade als Hedonist? Nüchtern trunken? Möglicherweise. Frau Schmidt übernimmt.

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Jesus died for somebody’s sins but not mine

Meltin‘ in a pot of thieves

Wild card up my sleeve

Thick heart of stone

My sins my own

They belong to me, me

People say „beware!“

But I don’t care

The words are just

Rules and regulations to me, me …..

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PS: Natürlich erzählt der Song eine andere Geschichte. Dennoch.

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