bagatelle zweiundzwanzig / aug. `99 / tangled up in slubice

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Auf dem Bahnsteig der Grenzstadt

in der ich den Maschinist mimte in Schopenhauers Salon

Setz Dich zu ihm er ist nett er ist klug er zeigt Dir die Hauptstadt

Sagte ich zu ihr und ging dann über die Brücke

Billige Zigaretten und Fusel zu kaufen der Grashalm verleihe mir die Kraft des Büffels

Man hatte mir erzählt in Slubice auf dem Markt bekomme man alles

Schnaps Frauen Waffen Drogen einen Killer nur nicht das Glück

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Abends saß ich an der Bar des Hotels draußen unwirtliches Industriegebiet

Dzevad der Schriftsteller der in Schopenhauers Salon das Gespenst von Kleist auf den treulosen Goethe hetzte

Erzählte mir von der Belagerung Sarajevos und wie sie schoßen die Nationalbibliothek in Brand

Drei Millionen Bücher starben seinen Studenten rezitierte er fortan den Faust aus dem Gedächtnis

Auf dem Hotelzimmer tranken wir die Flasche aus Slubice leer dann stand er auf und ging hinaus

Jede Nacht flog er mit den Schwarzen Vögeln über Sarajevo ohne Schlaf

Zum Frühstück sahen wir uns nochmal er müsse nun nach Hause ich möge meine Frau grüßen

Sie ist es nicht sagte ich noch

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In einer Probenpause rief ich ihren Anrufbeantworter an ob es nett war wollte ich wissen

Der kluge Dramaturg an dessen Tür ich klopfte hatte keine Zeit

Jetzt nicht wie es gestern war jetzt nicht später nein der Text müsse neu ob es nötig sei war meine Frage

Ein paar Stellen eigentlich nur Bagatellen wichtig nein aber na ja nötig gewiß die Türe schlug zu

Nachmittags standen alle mit gerußten Scheiben vor dem Theater und betrachteten die Sonnenfinsternis

Es sei die letzte totale Finsternis des zwanzigsten Jahrhunderts hieß es

Die Vögel schwiegen der Anrufbeantworter fiepte mich an

Sie las einen Brief er hatte ihr geschrieben vor halbvollen Gläsern wartend

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Vor dem Haus in dem Kleist ein Junge gewesen

auf der Treppe des Museums saß ich im Schatten blickte über den Fluß

fröstelnd am gegenüberliegenden Ufer glitzerte Slubice im Abendschein der zurückgekehrten Sonne

Ich ruderte hinaus auf die Oder mit Kleistens Kahn

Allein Henriette stand am Ufer und winkte fröhlich

Keine Lust auf Untergang rief sie ein knappes Jahr schritten wir

wohin denn noch und stießen an mit halbleeren Gläsern

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Diese Nacht halte ich ein Buch des Schriftstellers in der Hand ich hatte es nie zu Ende gelesen

Der nächtliche Rat die schwarzen Vögel machten sich bereit davon erzählt es das Lesezeichen an alter Stelle

„Die Vergangenheit ist immer da, unvermeidlich und unerbittlich, wie eine Falle, der wir sowenig entgehen können wie den Himmelsrichtungen.“

Kalter Regen trommelt Ich blicke in Dunkelheit gen Osten hoffnungsfroh

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Kaliningradskaja Kletski ili zhe Prichina

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Schauen wir zurück in Sachen Knödelträume. Ich hatte den Coronablues gesungen, wurde davon rechtschaffen müd‘ und begann zu kochen, während ich träumte. Oder andersrum. Jedenfalls knetete ich einen Teig aus gemischtem Hack, Zwiebeln, Eiern, milchgetränktem, dann ausgepressten altem Brötchen, band alles mit Paniermehl und strich noch etwas Sardellenpaste mit hinein. Nach Erreichen einer schönen Geschmeidigkeit würzen und ab in die Brühe und mit Lorbeerblatt, Piment und Pfeffer köcheln, sprach ich zu mir. Und dann Mehlschwitze mit Sahne zu einer Soße rühren und mit Kapern und Zitronensaft abschmecken, hörte ich mich sagen. Zuviele Stimmen in meinem Kopf. Sie überschlugen sich. Ich muß doch den Klops machen! Ein bißchen Schutz ist immer gut! Die Alternative zum 2FPZwoLeknö (FFP2 – Leberknödel)! Für alle! Alles für alle wird nun gut! Kletski machen! Los! Ganz viele! Jeder weiß, daß er weniger schlecht sein könnte, als er von Natur aus ist! Erinnere Dich! Ich wollte einem Ei das Eigelb entnehmen, als der Traum mir entglitt. Der Kletski sprang aus der Brühe und die Kapern aus der Soße. Ich erschrak, ließ das Ei fallen. Ich wollte dem springenden, singenden Klops ausweichen. Ich rutschte auf dem Ei aus, mein Kopf – ich träumte ja – schlug weich auf auf dem Küchenboden und als ich wieder zu mir kam und dachte, was ein seltener Traum und bevor meine Frau nach Hause kommt, sollte ich unbedingt den Küchenboden wischen und desinfizieren, da saß auf meiner schwer atmenden Brust grinsend ein riesiger Kaliningradskaja Kletski. Die Kapern hatte sich wie Putzerfische bei einem Hai an seiner Oberfläche festgebissen und das Monstrum sah aus wie … Genau. Brennpunkt. Neue Graphik. Die Mutante. Dachte ich. Der Klops sang währenddessen ein altes russisches Lied. Schwarze Augen. Sang ich mit? Dann begannen die Kapern mit kleinen grünen Fingerlein auf mich zu weisen und kichernd riefen sie: „Der glaubt an Wunder, der Depp. An Wunder! Ein richtiger Mensch ist das. Thick as a Brick. Dumm wie Bohnenstroh. Seine schwarzen Augen sind schon zugeschwollen!“ Und der Kletski schlug sich auf die Oberschenkel, die ihm eben gewachsen waren, um seiner Schadenfreude mehr Ausdruck verleihen zu können. Doch es lachte nicht nur der Klops, sondern ebenso ein kleines gebeugtes Männlein, das auf dem Klops zu reiten schien wie einstens Münchhausen auf der Kanonenkugel. „Er ist es“, sprach ein schwarze Katze, die sich als die Erinnerung vorstellte zu mir, „jener an dessen Grab Sie im Herbst vor etwa vier Jahren gestanden waren!“ und ich sagte zu meiner Erinnerung: „Was will der Kant jetzt hier?“ „Miau, mio: Sapere audio.“

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„Hab Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Eine Moral, die mehr als nur eine Illusion sein will, muss also von menschlichen Wünschen und Neigungen unabhängig sein. Du bist das vernünftige Wesen. Gedenke Deiner Pflichten, nicht vermeintlicher Tugenden. Sapere aude!“ Sprach das Männlein und ritt auf dem Königsberger Klops davon, mit Kapern jonglierend.

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Da sitzt er also in seiner Bibliothek untern Dach des alten Königsberger Doms, hinter Plexiglas, allein mit seiner Vernunft und grinst vor sich hin. Er hat es aufgegeben an mich zu glauben, den Menschen. Sollen sie doch, die da draußen. Ich erwachte. Ich mußte ja noch den Küchenboden wischen. Das wäre doch vernünftig. Oder?

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bagatelle einundzwanzig / nachtgebet

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als die zahnbürste aus dem mund und

ich mein gesicht aus dem spiegel gezogen hatte

mich ins bett gelegt hatte

der schwindende tag mich fern hielt vom schlaf

das licht ließ ich brennen

und las nur einen satz

jeder weiß daß er weniger schlecht sein könnte als er von natur aus ist

das war der satz

dann las ich ihn mehrmals

wieder und nochmals den satz

sprach ich

andere nennen das

gebet

jeder weiß daß er weniger schlecht sein könnte als er von natur aus ist

jeder weiß

daß er weniger

schlecht sein

könnte als er ach ja

bagatellen erhaschen noch

im schlaf der vergangene tag

eilfertig schweigt

heute keine musik mehr

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(sommer 2014 / bearbeitet)

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Heraus zum Tag der gepflegten Erscheinung! / Kultur verteidigen!

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Was für ein wunderbarer Tag heute. Der meteorologische Frühling beginnt, die Speerspitze der Kultur, unser aller Haarkünstler, dürfen wieder ihrer Arbeit nachgehen und Anita wird 60. Drum stimmen wir frohgemut ein:

Schön ist es auf der Welt zu sein!

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Immer wieder Sonntags …

… ein Blick zum Himmel und in den Kopf / sieben

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Seit sechs Wochen jeden Sonntag ein Blick in den Himmel im Kopf. Stelle mir vor, ich begebe mich in den Winterschlaf wie ein Bär. Erwache erst, wenn der ganze Mist vorüber. Träume mich durch alte Lieder. Ab und an hebe ich ein Augenlid, blicke in den Himmel und schaue nach, ob es sich lohnt, mich wieder zu bewegen. Jeden Sonntag. Seit sechs Wochen.

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ich hatte gestern

gestern hatte ich zuviel gestern

einen weißen raum mit schwarzen vorhängen

nahe dem bahnhof

als ich so jünger war jünger als

gestern hilfe ich brauche

im sonnenschein deiner liebe hilfe ich brauche jemanden

und gott sprach zu abraham töte mir deinen sohn

aber ich kaufte mir einen rolls royce denn das

tat meiner stimme gut

wachte morgens auf nahm mir ein bier

keiner kommt hier lebend raus schrei kind schrei

da an der kante da an der ecke steht dein neffe mit dem gewehr in der hand

halt’s maul

schon als kleiner junge spielte ich den flipper wie ein gott

hoffte zu sterben bevor ich alt werde

du schlugst mich mit einer blume

das telefon klingelte ich sage wer ist dran

auf meiner wolke sind zwei einer zuviel

stell dir vor

stell dir vor

da ist kein himmel

es gibt ihn nicht

halt’s maul

gib mir ein f

gib mir ein u

gib mir ein c

gib mir ein k

buchstabiere

danke für die musik

frühstück im bett für vierhunderttausend

ich sitze vor meinem gesicht

gehe hinein

spieglein spieglein

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Bob Dylan – 1970 (50th Anniversary Collection) / Die Reise ist mein Zuhause

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Gestern das neueste Werk von Bob Dylan aus dem Briefkasten gefischt. Neu? Fünfzig Jahre alt. Und frisch wie eine eben aus dem Teich gezogene Regenbogenforelle. Ein dickes, fettes Buch voller junger, ewiger Lieder. Angerissenes, Variertes, Eigenes, Fremdes, mäandernd. Viel Spaß an der Arbeit ist zu hören. Und ein ehemaliger Beatle spielt auch ab und an mit.

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Ich machte mich auf den Zigeuner zu sehen. Er wohnte in einem großen Hotel. Als er mich kommen sah, lächelte er. Er sagte: „Gut. Gut. Gut.“ Sein Zimmer war dunkel und vollgerümpelt. Kaum Licht, runtergedimmte Glühbirnen. „Wie geht es Dir?“, sagte er zu mir. Ich entgegnete die gleichen Worte. Ich ging hinunter in die Lobby. Ich tätigte einen kurzen Anruf. Eine hübsche Tänzerin stand da rum. Sie schrie mich an: „Geh wieder zum Zigeuner. Der krempelt Dich komplett um. Nimmt Dir Deine Ängste. Er führt Dich hinter den Spiegel. Dafür war er bekannt in Las Vegas. Hier führt er das fort!“

Draußen die Straßenlichter. Der Fluß Träne glitzerte in ihrem Schein. Ich betrachtete alles aus der Ferne. Musik klang in meinen Ohren.

Ich machte mich ein zweites Mal auf den Zigeuner zu sehen. Der Morgen dämmerte. Die Tür zum Zimmer des Zigeuners stand weit offen. Der Zigeuner war weitergezogen. Die hübsche Tänzerin ebenso. Sie war nirgends zu finden. Also schaute ich der Sonne beim Aufgehen zu. Ich kam aus dieser kleinen Stadt in Minnesota. Ja, ich war gekommen aus dieser kleinen Stadt in Minnesota.

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„Die Reise ist mein Zuhause“. Dies schrieb einst der Meister des Haiku: Basho. Der Vorgang des Suchens ist mindestens genauso von Bedeutung wie ein anvisiertes Ziel. Das Wie eines Schaffensprozesses erzählt vom Künstler ebenso wie das Ergebnis des Suchens, sein Werk.

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Ich werde mir eine Blockhütte bauen in Utah. Ich werde heiraten. Ich werde Regenbogenforellen fangen. Ich werde eine ganze Schar Kinder haben, die mich „Pa“ rufen. Ich glaube darum geht es. Das muß es sein, um was es geht.

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Bob Dylan wird so zitiert: „Im Leben geht es nicht darum, Dich selbst zu finden oder überhaupt irgendetwas zu finden. Leben handelt davon sich selbst zu erschaffen!“

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„Natürlich ist die drei CDs umfassende Sammlung kaum mehr als ein Stück Pop-Archäologie. Kurz vor dem 80. Geburtstag Dylans aber verweisen diese Hervorbringungen aus dem Jahr 1970 darauf, dass Kreativität und Zeitgenossenschaft nicht nur etwas mit der Gunst des Einfalls, sondern auch mit der Bereitschaft zum Üben zu tun haben.“ (Harry Nutt / Frankfurter Rundschau)

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bagatelle zwanzig / oh poem / gestern noch in weimar heute schon zu kalau

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ob und wie sie gewännen

wenn sie jetzt begännen

oder ob sie nur sie rännen

in düstere gass’

was sie ersännen

sich selbst dann betränen

oder leider begähnen

nur bescheidenen spaß

gewiß ist sie brennen

und sie werden nicht flennen

denn sie werden bekennen

daß ihre antennen

bis in die ardennen

wo oben die sennen

den mittag verpennen

statt fleißig zu trennen

die milch vom poeme

fließt hin nun ihr

gedankenstroeme

von hier bis von dennen

denn man muß sich stellen

auch den bagatellen

den weniger hellen

und solltest du schellen

dann bitte an sellen

den selbigen schellen

weil diese die anderen

sell schellen halt nicht

ein dummes gedicht

war heut meine pflicht

dem schiller die flöte

glück auf herr geheimrat

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(sommer 2015 / heute verlängert)

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am winterteich / sechs

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Märzwinde im Februar

Die Augen offen

Das Herz möchte noch schweigen

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Märzwinde im Februar

Papier steckt im Schuh

Die Pläne ruhen im Schrank

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Märzwinde im Februar

Schmerzende Glieder

Ich stapelte Holzscheite

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Märzwinde im Februar

Nackten Zweiges Scham

Erwarte nicht den Jubel

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Van the Man: March Winds in February

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