Alte Sommer in Italien und ein Neuer?

…..

…..

Ich hatte unten geschrieben, daß ich meine Daumen für die 3 Löwen und besonders für Harry Kane gedrückt habe. Aber man sollte sich als Regisseur nicht über den Dichter stellen und auch als Fußballtrainer nicht über die Psychologie der Pöhlerei, die es zwar nicht wirklich gibt, aber da hatte Beckenbauer schon recht, als er die Buben mit den berühmten Worten, sie mögen bitte den Rasen betreten und dann halt kicken und sonst nix, an die Arbeit schickte. Zuviel des Denkens ist gerne Ausdruck tiefsitzender Ängste. Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Aber bring das mal einem Chef bei, der meint eben auf dem Rücken des Geiers Erfolg übers Land zu segeln.

*

Zum Thema. Bella Italia. Ich habe seit neuestem einen italienischen „Schwager“. Wir lernten uns kennen nach dem ersten Gruppenspiel der blauen Truppe und ich sagte zu ihm, radebrechend meine 50 Worte seiner Sprache zusammenstoppelnd: „Ihr macht das!“ Hat mich gefreut, daß ich nicht daneben lag. Trotz Sir Harry ohne Meghan! Italien hat die Pandemie offensichtlich sehr solidarisch bekämpft. Ohne Querdenker, BILD und Öffnungsdiskussionsorgien. (Grazie, Angela!) So haben sie gekickt – sagt man gecalciot? – und gesungen. Der Zustand von La Mann*innenschaft spiegelt das in Egoismen vor sich hinsuppende Germanien. Bockige Bären und Scheinregenbögen, wo man hinschaut. Man weiß, sie existieren, aber wo laufen sie denn? Klinsmän erfand den Diver bei den Hotspurs, Jogi hat das Abtauchen nach den Turnieren perfektioniert und jetzt ist der Bierhoff weg. Hoffentlich für immer. (Vergessen. Der iss ja in Katar. Kohle abholen!)

*

Von Konstanz bis an die Riviera ist es nicht weit. Ende der 60er war es das aber schon. Ein Renault R 4, bis übers und unters Dach bepackt mit Campingausrüstung, drei Geschwistern und am Steuer der Herr Papa, der das hellblaue Gefährt im ersten Gang über – wahlweise – Gotthard oder San Bernadino prügelte. Er sammelte Alpenpässe. Unter uns fingen sie damals an die Tunnels in Richtung Gelati Motta zu graben. Und eine gigantische Brücke überspannte Genova. Neu damals, noch nicht ahnend ihren Tod.

*

Gelati Motta. Eine richtige Bolognese. Die erste Pizza. Und – inzwischen leider, Signore Fascista Ferrero – auch das erste Panini mit Nutella. Geschmacksexplosionen. Dazu sang die Reibeisenstimme vom ewig blauen Himmel über uns. An meinem ersten Meerwasser verschluckte ich mich in Marina di Andorra nahe Imperia. Der Bub vom Bodensee ekelte sich erstmal vor der Brühe. Aber dann stellte er fest, daß man viel länger und ohne Anstrengung den toten Mann machen konnte. Die Lira damals hatte sehr viele Nullen. Ein Gelati Motta kostete irgendwas mit tausend. Staunen.

*

Pane e coperto. Das Eintrittsgeld in die Taverna quasi. In den Siebzigern Pfennigbeträge. Später fast der Gegenwert einer Pizza Margherita. In den Jahren rund ums Abitur hatte ich mit ein paar Freunden Firenze entdeckt als Sehnsuchtsziel. Nachtzug ab Zürich. Zum Frühstück vor Ort. Später es den Freundinnen gezeigt. (Leider nicht mehr abrufbar die Euphorie des Buben.) Unser Ritual. La Prima: Cultura. Also Uffizien, eine Kirche, die Boboligärten und und. Secondo: eine Bar. Vino und Pizzastück und wichtig damals: nur eine Bar mit Flipperautomat kam in Betracht. Dolce: auf einer Bank in einem Park sitzen, Birra Peroni und jeder mußte seine Eindrücke in einem – mindestens – Vierzeiler festhalten. Die Hefte habe ich immer noch.

*

Oder kurz vor Mitternacht in unserer Stammkneipe in Konstanz, sagte einer, er würde gerne in Milano frühstücken. Gesagt, getan. Den Käfer bepackt mit drei Zahnbürsten, Tabak und Schlafsack und ab. Ich erinnere mich, daß einer von uns die Musik beisteuerte. Eine Kassette. Die erste Platte von Tom Petty. Wir landeten dann auf der Isola di Elba. Und fuhren nach ein paar Nächten am Strand – es war im Herbst und dann schon etwas ungemütlicher – wieder zurück, im Kofferraum einen Sack voller Maroni, Eßkastanien selbstgepflückt. Die Zöllner in Chiasso guckten etwas irritiert und einer von uns mußte sein Messer abgeben. Italienische Grenzwächter hatten damals wenig Humor, wenn sie es mit Zottelhaarigen zu tun hatten.

*

Eine Fenchelknolle. In Scheiben geschnitten. Olivenöl. Fertig. Damals pures Entsetzen, so 1981 bei Cagliari. (Ich weiß, das sind keine Italiener und jeder Sarde verwehrt sich auch dagegen!) Heute Leibspeise aus eigener Parzelle. Dann – wir trampten, Frau am Straßenrand, Mann rauchend im Gebüsch, hat stets funktioniert – lud uns eine Familie ein zu einem Fest (Geburtstag, Hochzeit, Heiliger – vergessen!) und als Ehrengast mußte ich den Wurm, mit dem sie dort einen besonderen Käse veredelten, verzehren. Ritual. Die Gastfreundschaft beinhaltet auch Pflichten. Mein erster Grappa. Ich glaube, ich wurde in den nächsten achtundvierzig Stunden nicht mehr geküßt.

*

Es wäre mal wieder an der Zeit nach Italien zu reisen. Sie wälzen sich nicht mehr auf dem Rasen rum und jammern. Das macht inzwischen der Tedesco.

…..

Posttraumatische Verbitterungsstörung

…..

…..

Nein, das habe ich nicht erfunden, sondern gefunden, also gelesen in einer der beiden Gießener Lokalgazetten. Man hilft den coronagebeutelten Lesermännern und Leserinnenfrauen ja gerne, wo man kann, über die analoge Lebensstraße. Es gibt also eine Verbitterungsstörung, die unser aller Leben in einem der ärmsten Länder Europas, ach der ganzen Welt, zu bedrohen scheint. Gut, Mister Southgate, der die Drei Löwen fast schon jogilöwig in den posttraumatischen Elfmeteruntergang coachte, also in der einhundertzwanzigsten Minute eine paar Jungsche einwechselte, nur für den einen Schuß, der ihn ein Leben lang verfolgt hat, da sehe ich eine echte Verbitterungsstörung anrauschen. (Natürlich habe ich das wieder verpennt auf dem gemütlichen Sofa!) Aber was ist mit den armen Menschen, die letztes Jahr bis zu zehnmal zum Dm rennen mußten, mit Masken im Gesicht, um ein paar Rollen Clopapier zu ergattern? Oder den Kreuzgeimpften, die eigentlich von Anfang an Biontech eingefordert hatten? Und wir alle, denen seit Monaten die bösen, bösen Politiker die Reisekataloge aus den Händen schlugen? Und die ganzen ausgefallenen Revolutionen, von denen wir Rentner in saumseliger Erinnerungsmanie vor uns hin summen? Und Putin ohne den Großen Väterländischen Sieg? (Das Foto oben zeigt ein Plakat mit dem die hiesige DKP – ja so was gibt es noch – im letzten Kommunalwahlkampf plakatiert hat! Ernsthaft! Und jetzt sind die auch noch rausgestrecktes Zünglein an der Waage! Der Verbitterung Ade sagen quasi!) Und die ganzen Mimen, die anders besetzt wurden, als erträumt und erwartet, wo sie doch eigentlich und so weiter? Und plötzlich regnet es im Juli statt vierzig Grad? Und dann hat auch noch Uli Hoeneß einfach nur recht? Hallo? Geht‘s noch? Und vor allem, was ist mit Robert Habeck, der armen Socke, der sich von einer hochtönenden Karrieredame über den Löffel balbieren ließ und jetzt zusehen muß, wie seine Partei auf Normalmaß zurückgestutzt wird? Und Eintracht Frankfurt ohne Championsleague? Ach wären wir nie aus den Schößen unserer Mütter, die für uns den Schmerz der Geburt durch das Wochenbett trugen, gekrochen. Da fing es doch schon an mit der ganzen Verbitterung. Wir sind die anderen, die halt niemals dazu kommen, selbige auch zu sein. In derselben Zeitung las ich dann, daß der Verzehr von Bitterschokolade in den Coronatagen stark zurückgegangen ist. Man macht es sich also lieber süß. Echt süß! Und was heißt eigentlich posttraumatisch? Ich träumte und dann kommt der Postbote und schmeißt mir die Rechnung in den Briefkasten? Am Himmel hängt schon wieder ein Gewitter! Bitter!

…..

bagatelle zweiundvierzig / zwiebacken

…..

…..

nun da die zukunft nur noch ein zwieback

vielleicht uns ist

vor dem zerkauen einzuweichen in lauwarme milch

nun da die zukunft keine schwarzwälder

kirschtorte mehr üppig getränkt mit schnäpsen

die wir weit ausholend unseren ahnen ins gesicht

schleuderten unsere tische zukunft reich gedeckt noch

waren damals

packt uns die angst vor einer zukunft

die uns nur mehr scheint zwiebacken

die wütende sahne im gesicht aber dem eigenen

sie empört uns indigniert

sollten wir aber gelernt haben

dass jede bagatelle

dass die zukunft der nachwachsenden

sich von der vergangenheit der

altvorderen

nur in der form unterscheiden wird

nicht der inhalt sich wandelt

verlust schmerz euphorie leid schmerzende glieder

einatmen

ausatmen

die hoffnung blind umklammert

eingeweichten zwieback schlürfend

durch einen strohhalm

…..

PS: Sie werden in den nächsten Tagen in London die neue Variante des kleinen Tierchens wohl weiterzüchten und uns – sincerely yours – über den Kanal schicken. Wir werden es nicht zu verhindern wissen, auch nicht mit Klagen und Barmen. Hoffe trotzdem, daß einer der sympathischsten Kicker ever, Mister (bald Sir?) Harry Kane noch zwei bis drei Tore schießt. Das Foto getätigt 2017 in GB. Einer der wunderbarsten Urlaube, in der Sprache der Nachwachsenden, ever!

…..

Immer wieder Sonntags …

… ein kleines Stück Dylan zum Frühstück

…..

…..

Seit ein paar Wochen jeden Sonntag – ok, fast jeden Sonntag und wenn ich Lust und Zeit habe und nicht meinen Gemüsegarten gießen muß – ein kleines Stückchen Bob Dylan zum Frühstück. Frisch verwurstete Texte. Oder altes Material. Eigener Mist. Fremder Mist. Fundstücke. Auch das alte Brot muß man essen. Auf geht’s. Fast jeden Sonntag. Fast ist mehr als nüscht.

…..

Blues für Geächtete

*

Nicht so einfach. Stolpern

Um mit dem Gesicht in einer lustigen Lagune zu landen

Nicht so einfach. Stolpern

Um mit dem Gesicht in einer lustigen Lagune zu landen

Vor allem wenn die neun Meter unter Normalnull liegt

Oder es ist drei Uhr am Nachmittag

*

Ich hänge keine Bilder mehr auf

Und schon gar nicht Bilderrahmen

Ich hänge keine Bilder mehr auf

Und schon gar nicht Bilderrahmen

Gut, vielleicht sehe ich Robert Ford ähnlich

Aber ich fühle mich eher wie Jesse James

*

Wünschte mir ich wäre auf so einer

Australischen Bergkette

Ich wünschte mir ich wäre auf so einer

Australischen Bergkette

Gibt keinen Grund dort zu sein, aber

Stelle mir vor das wäre mal eine Art von Veränderung

*

Trage meine dunkelste Sonnenbrille

Und schwärze meine Zähne denn so sehe ich besser aus

Trage meine dunkelste Sonnenbrille

Und schwärze meine Zähne denn so sehe ich besser aus

Aber frage mich nichts über gar nichts

Ich könnte Dir die Wahrheit erzählen

*

Bin mit einer Frau aus Jackson zusammen

Weiß aber gar nicht wie sie heißt

Bin mit einer Frau aus Jackson zusammen

Weiß aber gar nicht wie sie heißt

Sie ist eine Chicana

Umso mehr liebe ich sie

*

bagatelle einundvierzig / pere lachaise

…..

…..

Bevor ich in den großen Schlaf sinken werde

Möchte ich daß Du den Schrei eines

Schmetterlings hörst

Sagte ich zu ihr

Die mich begleitete

Jene angebetete Schaustellerin der Liebe

Die stand irritiert vom Leben jenseits der Bühnen

Mit mir am Grab des Sängers

Der zu schön war für den Rock’n’Roll

Und in einer Badewanne landete

Als er den Blues entdeckte

Um einzuschlafen für immer

In der Stadt der Liebe

Die ich suchte festzuhalten dort

Vergebens und hörte wie

Alle Schmetterlinge entflohen meiner Brust als ich sah

Ihr gelangweiltes Gesicht

Ob meiner kindischen Freude

Und ihre Gewißheit den Sänger im eigenen Bett

Empfangen zu dürfen

Hätte sie nur wollen dürfen

Zwischen ihren überschminkten Augen glaubte ich

Dies zu lesen

Vor dem Friedhof in einem Bistro

Trank ich drei Pernod

Sie schwieg eisern

Wie mein schmerzendes Herz

*

(Paris / Frühjahr 1998)

…..

PS: Zum fünfzigsten Todestag. Weiß immer noch nicht, was ich von ihm halten soll. Dieses Lied mochte ich immer sehr.

…..

PS2: Das Photo oben hat mir Mick Jagger zur Verfügung gestellt.

…..

bagatelle vierzig / vom gemüse singen

…..

…..

Knete rote Beete

Fenchel streicheln jäte

Kartoffelkäfer klauben

Weißkohl zerstört entlauben

Salate vor dem Sprießen

Nicht zu heftig gießen

Harke durch den Boden ziehen

Der Rucola ist gut gediehen

Am Zaun ein Kürbis lauert

Die Gurke noch was dauert

Die Bohnen kräftig ranken

Und mit dem Unkraut zanken

Doch eines wäre noch zu raten

Achte stets auf die Tomaten

Und binde sie an Stecken

Sonst werden sie …

Ach ja und der Spinat

Hält aufrecht sich und grad

Und diesen einen Rettich

Geerntet ihn fast hätt` ich

Da fiel mir ein

Da muß noch etwas Jauche rein

Ins Beet und der Kohlrabi

Braucht keine Matura

Es lebe die Natura

…..

PS: Dank an die Gattin für das Foto. Im Hintergrund rauchen die letzten Reste der Arbeiterklasse vor sich hin.

bagatelle neununddreissig

…..

…..

also stehen sie weiter im türrahmen

ihre koffer schon vorausgeschickt

den fuß in der türe noch

salbadernd

den finger im bauchnabel

und streuen mehltau

auf ihre alten taten

und die neuen werke

ersticken unter ihrer agonie

keiner kommt rein

keiner mehr raus

totes haus

maden feiern feste

…..

Für Joachim Löw und all die anderen, die nicht erkennen können, wann ihre Zeit abgelaufen ist.

…..

bagatelle achtunddreissig

…..

…..

als durch die alten folianten

noch worte die wir kannten

vom hirn ins herzelein rannten

und wir den bogen spannten

vom gestern bis ins abgestand‘ne bier

das heute trinken wir

und so wir schnell verbannten

gespenster absturzkanten

und blieben querulanten

vor uns’rem eig’nen bangen

der angst vor dem verlangen

wir nannten das unendlichkeit

und ruhten in fremden worten

an unbekannten orten

und auch in den folianten

die wir niemals erkannten

auf dieser reise ohne ziel

um zu begreifen ein leben

auf abgefahrenen pneus

…..

PS: Noch ein schönes Photo, welches die Liebste schoß. In Münster / Westfalen. Dort wird, erfuhr ich eben, eine Krimiserie gedreht. Wieder mal was gelernt.

…..