Schaben fliehen w-einend

(Betreff einer Spam – Mail vom 19.12. 2020)

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Draußen angenehm gespenstische Leere. Deja vu. Kaum waren die Läden geschlossen, öffnete sich der trübe Himmel und die kalte Sonne erhellt freie Parkplätze. Subjektives Empfinden oder zynische Erleichterung eines Innenstadtbewohners? Lassen Sie sich das Wort Parkplatzsuchverkehr auf der belegten Zunge zergehen, zerkauen Sie es bis man die Belästigung schmecken kann und spucken Sie alles dann aus neben einem der überquellenden Mülleimer. Pizzakartons. Kaffeebecher. Nudelboxen. Bubbleteatassen. Undefinierbares. Masken und Masken. Spritzen. Der rote Bulle, der nicht fliegt. In Knitterdosen. Zum Gehen oder hier? Obsolet diese Frage. Gibt eh nur noch „zum Gehen!“ Schaben fliehen w-einend. Die kümmerlich asphaltierten Plätze, „schwarzer Beton der sonst dient als Laufsteg eines käuflichen Niemandsvolkes“ (frei nach Wolfgang Hilbig), atmet glühweinbefreit Möglichkeiten. Luft. Die eigenen Schritte sind zu hören, die Stille gebrochen nur vom hastigen Trippeln der Paketboten. Man selber hetzt nicht wie die armen Lieferschweine. Der Atem pocht ruhig hinter der Maske, der Bart wird feucht. Von den Titelseiten der Zeitungen brüllen leis‘ die Klagen. Liest sowieso keiner. Stiller Tag und Stille Nächte. Schaben fliehen w-einend. Ratten kollabieren auf Dönerresteentzug. Im Schaufenster einer geschlossenen Eisdiele sitzen drei Schlümpfe. Sie sind guten Mutes. Ich heute auch. Ist dies nun Traum, Alptraum, das wahre Leben oder nur der Zustand eines vorüberhuschenden Heute? Und was soll man davon berichten und wo einfach lediglich schweigen? Poesiealben sind seit März im Sonderangebot. Bundesweit. Deutschland funkt Kultur.

Zuhause dann – die Heizung ist noch kein einziges Mal ausgefallen und der Kühlschrank immer noch ausreichend gefüllt – lese ich in einer Biographie über Wolfgang Hilbig, der meine Gedanken dieser Tage mit Beschlag belegt, eine paar Sätze aus einem Vortrag über Lyrik, den Hilbig 1992 in den USA gehalten hatte: „Das sogenannte ‚wahre Leben‘, wie es von Gott und aller Welt institutionalisiert werden soll, erweist sich schon durch den Zusatz ‚wahr‘, den es benötigt, als ein Zustand, dessen Existenz jeden Zweifel verdient. Ein Mehr oder Weniger an Wahrheit kann es für eine Wirklichkeit nicht geben, sonst wäre dieser Begriff der Sprache falsch.“

Dann noch dieses: „In der Regel ist das Neinsagen der Beginn dieses Ich – Empfindens. Ein Dichter, der sich nicht mit der vorgefundenen Wirklichkeit zufrieden geben will oder kann – der sich also nicht als bloßer Barde des Bestehenden begreift: wenn hier von Begreifen überhaupt die Rede sein kann – wird auf eine bestimmte Art immer in einer Lage sein, in der er das Leben, oder die Welt, oder Teile davon, neu und von vorn beginnen muß, und selbst, wenn er dies im Rückblick, im Erinnern kann. (…) Wenn es dieses Ideal gibt, oder geben soll, diese immer wieder am Anfang stehende Weltsprache der modernen Poesie, so wird in dieser das Wörtchen ‚ich‘ mit dem Wörtchen ‚nein‘ übersetzt.“

Das Viele, es fehlt mir nicht. Das Wenige, es reicht dieser Tage. Und es ist nicht das Wenige von Gestern. Es ist von heut‘. Schaben fliehen w-einend.

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KEINER WEINE

Rosen, gottweißwoher so schön,

in grünen Himmeln die Stadt

abends

in der Vergänglichkeit der Jahre!

Mit welcher Sehnsucht gedenke ich der Zeit,

wo mir eine Mark dreißig lebenswichtig waren,

ja, notgedrungen, ich sie zählte,

meine Tage ihnen anpassen mußte,

was sage ich Tage: Wochen, mit Brot und Pflaumenmus

aus irdenen Töpfen

vom heimatlichen Dorf mitgenommen,

noch von häuslicher Armut beschienen,

wie weh war alles, wie schön und zitternd!

Was soll der Glanz der europäischen Auguren,

der großen Namen,

der Pour le mérite,

die auf sich sehn und weiter schaffen,

ach, nur Vergehendes ist schön,

rückblickend die Armut,

sowie das Dumpfe, das sich nicht erkennt,

schluchzt und stempeln geht,

wunderbar dieser Hades,

der das Dumpfe nimmt

wie die Auguren –

keiner weine,

keiner sage: ich, so allein.

(Gottfried Benn)

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gotta serve somebody

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„Zum anderen sollte es uns helfen, mal wieder in aller Demut zu realisieren, dass uns nichts gehört, nichts für immer ist und unser Leben nur eine Leihgabe. Nach all den Jahren, die uns schon geschenkt wurden, wäre ein regelmäßiges Ritual aktiver Dankbarkeit – in welcher Form auch immer – ganz angebracht.“

Das schrieb mir unlängst ein musikalischer Freund. Gute Ärzte hatten ihm eben geholfen dem Sensenmann, der schon gewunken hatte, die Sichel aus der Hand zu nehmen. Immer wieder las ich letzter Tage diese Zeilen und war getröstet. Etliche Jahresabschlußworte werden in den nächsten Tagen niederregnen. Denke dem obigen Text ist wenig hinzufügen.

Anfang März dieses Jahres – das Virustier machte sich so langsam in Deutschland breit – war ich eine Zeitlang im Kloster Engelthal. Entscheidungen treffen, nachdenken statt trinken, etwas suchen, einen Adressaten in Sachen Dankbarkeit vielleicht und die Ruhe sowieso, den guten alten Stein der Weisen auch, wohl wissend, daß er meist nur ein Wunsch und so Vater dämlicher Gedanken ist. Als ich das Kloster nach beeindruckten Tagen verließ, stand ich in einer anderen Welt. Laden runter, Läden zu. Bleibt zu Hause, sprach das Virusvieh.

Mit dem musikalischem Freund, der die obigen Worte schrieb, sang ich letztes Jahr „Gotta serve somebody“. Er sang es davor schon mal woanders und das anders. Ich sang es ganz woanders auch mal früher und anders eben. Der Text bleibt. Eine Fassung.

Die Suche geht weiter. Mal da, mal dort. Manchmal ahne ich, wo man aufgehoben ist. Sein wird. Könnte. Weiß man es? Gewiß aber nicht in der gnadenlosen (neoliberalen?) Einforderung seiner als Bub mal erträumten Einzigartigkeit oder im ewigen Lamento. Nee Nee Nee!

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Out on the highways and the by-ways, all alone

I’m still searching for, searching for my home

Up in the morning, up in the morning out on the road

And my head is aching and my hands are cold

And I’m looking for the silver lining, silver lining in the clouds

And I’m searching for, searching for The Philosopher’s Stone

And it’s a hard road, it’s a hard road

daddy-o

(…)

(Van Morrison)

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paketbotenblues

treppen rauf und runter treppen hoch zum hungerlohn

ich ich ich

ich warte schon auf mich und das paket und du so spät

woyzeck renn marie du flenn

ich fand im sumpf das messer nicht mehr

und meine pflicht die erbse

woyzeck warum frisst er sie nicht

woyzeck hund

du lieferst zu spät renn und hetze er jetzt

der enttäuschte kunde solang sein messer

wetzt

wie ich nach hause fuhr gern umarmt hätt ich

die marie sie nahm das messer

sie wußte es besser

als ich damals

das messer suchte und nicht fand

im sumpf

und stach zu ich pisste die erbsen

an die wand

gut nacht marie gut nacht

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Gute Lieder kosten Geld

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What was it you wanted

Tell me again so i know

What`s happening in there

What´s going on in your show

What was it you wanted

Could you say it again

I’ll be back in a minute

You can get it together by then

(Bob Dylan)

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Bob der Baumeister hat sein Leben lang gearbeitet. Er schuftete, schaufelte und durchforstete alles was ihm vor die frierenden und betrunkenen und bekifften und nüchternen und lysergsäurehaltigen Füße fiel, sang sich durch Bibliotheken, durch seine Geliebten, sein trauriges Land, sein euphorisches Land, die Geschichte, seine Bewunderer, seine Verehrten und Angebeteten, die Bibel, Shakespeare, Brecht, Rimbaud und schlechte Comics, Little Richard, Allen Ginsbergs Geheul, am Grab von Ti Jean zu Lowell mit pathetischer Gelassenheit saß er, er stahl, klaute, log mit Freuden, war bekennender Dieb, erfand „copy and past“, war Bewahrer, Fackelträger, Weiterleiter, Zeigefinger, Zweifler, arrogantes Arschloch, Zigeuner, Häuslebauer, ein Bewunderer seines eigenen Zweifels, der sich schnitt den eigenen Zeigefinger vom Leib, um über den ewigen Zweifel nicht siegen zu wollen, er irrte, drehte sich im Kreis, fiel vom Motorrad, um seine Ruhe zu finden, die er verachtete, verweigerte sich allem und sich selbst und vor allem dem übelsten Gegner aller Kunst: dem Fan, der schlimmsten Waffe nach der Erfindung des Maschinengewehrs.  Das schrieb einst Sam Shepard, einer seiner Wegbegleiter auf seinem Weg, der keine Wegbegleiter brauchte und die er doch so bitter nötig hatte.

Vor kurzem hat Bob der Baumeister die Rechte an seiner Arbeit zu einem gnadenlosen Preis verkauft.  Empörung? Der ewige Fan buchstabiert sich inzwischen als Spotify oder Strömungsdienst oder freier Runterlader. Rechtshänder oder Linkshänder? Hand auffem Schmerz! Egal. Schon immer so gewesen. Platten klauen. Freikarte. Gästeliste. Geht da was?

Bob der Baumeister sagt: wenn dein Daumen über die Benutzeroberfläche streicht: es gibt da jemand, der dafür gearbeitet hat. Oder? Kinners, sach ich mal so: gute Lieder kosten Geld. Kunst ist nicht Freibier. Auch wenn die Denkfaultiere es sich so wünschen. Bob der Baumeister macht es richtig. Ansonsten selbermachen: Sechshundert mal muß es nicht sein.

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Fearing Long John Silver!

Political World

We live in a political world

Love don’t have any place

We’re living in times

Where men commit crimes

And crime don’t have any face.

(…)

We live in a political world

Wisdom is thrown in jail

It rots in a cell

Is misguided as hell

Leaving no one to pick up a trail.

(…)

We live in a political world

Where courage is a thing of the past

Houses are haunted

Children unwanted

The next day could be your last.

(…)

(Bob Dylan)

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Nachdem inzwischen sogar Potin und Pulen anerkennen, daß es über dem Großen Teich einen gewählten Nachfolger von Psycho – Kid gibt, auch von mir ein kleiner Abschiedsgruß. Barack Obama beschreibt es in seinem Buch, welche Provokation seine Präsidentschaft für die einigen Vielen (aber doch Wenigeren, hihihi!) darstellte. Tausend Seiten oder so. Lemmy Kilmister hat es in seinem Sprech einst schöner und knapper auf den Punkt gebracht: „Amerika ist randvoll mit rassistischen Mamasöhnchen, die keinen mehr hochkriegen! Für die ist ein schwarzer Präsident, den die schicken weißen Mädchen vom Rodeo Drive gut finden, die größte Provokation der Welt!“ Conclusio? Soll er sich halt weiter lächerlich machen der Haarfärber, jedoch das Hauptproblem ist ein anderes: It’s the Wähler*Genderstern*mensch, not the President, Stupid! It’s not the devil or the demon, es ist immer noch die Übernahme eigener Verantwortung, die letztlich zählt. Funktioniert nicht immer, aber ab und an wäre das durchaus sinnvoll. Nicht nur im Interesse der Eisbären. Freue mich jetzt schon auf die Reaktion der oben beschimpften Klientel, wenn mal Kamala Harris den Laden rockt usw.

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Postscriptum: Das wäre 2016 gewiß eine fundiertere Wahl gewesen:

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Lob und Tadel der Baustellen.

Blätter und Schatten

Nicht neu kann sein was du beginnst –

denn immer nimmst du was dir längst gegeben

und gibst es hin:

wie in der Liebe da es mir gebricht

an jeder Kenntnis: rot wie die Buchen Laub verstreun

maßlos am Wegrand wo ich schon sehr frühe ging …

und kannte nicht den Weg

und kenn ihn jetzt noch nicht

und kenne nicht das Kind des Schatten mir vorausläuft

und weiß nichts von der Sonne die ihr rotes Gold

dem Blattwerk einbrennt.

Und weiß nicht mehr den Herbst

der ernst in meinem Rücken ging und dem ich Schatten

war: stets neu entworfner Schatten ungezählter Herbste.

(Wolfgang Hilbig)

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An was bauen auf Trümmer blickend? Auf die Trümmer von zerbröselnden Gewißheiten. Auf die Reste der schmelzenden Ewigkeiten von gestern. Mehr erträumt und behauptet als denn jemals stattgefunden.

Vor dem Fenster Panik. Man stürmt nicht die Bastille oder die Gefängnisse, sondern ein Schuhgeschäft und verwüstet es. Welche Angst treibt hier an? Noch knappe 36 Stunden. Sonst mit leerem Arm am Fest der Liebe. Obsolet das seit Jahren heruntergeleierte „Dieses Jahr schenken wir uns aber nichts!“. Wird es jetzt wahr? Die schönsten Geliebten sind die, welche flohen. Wären die Kirchen dieses Jahr voller, wenn sie dürften?

Welches werden die großen, bedeutenden Baustellen werden? Wer wird haben das Sagen? Die Lenkradherumreißer? Die Tempomaten? Die Bleifüße? Letztes Jahr, als ich in Hoyerswerda über „Gundi“ nachdachte und arbeitete und die Neunziger im Osten, die Zeit der richtig großen Umbrüche, konnte ich zusehen wie, immer noch, Wohnkomplexe (WK) vor Ort „rückgebaut“ wurden. Abrissmonster fraßen sich in leergelebte Riegel, knirschend, mit, immer noch, siegergefletschten Eisenzähnen. Das Neue schleifte stets die Mauern des Alten bis auf den Grund. Bastarde werden selten gelitten. Vielleicht sind sie manchem zu zäh. Die streunenden Hunde erwachen eben erst. Woanders, in den Ländern ohne Staatsgarantien auf Ewigkeit, lecken sie schon die Pfoten der Macht.

Manchmal wünschte ich der Menschen höchstes Glück wäre die Fahrt mit dem Schlagrahmdampfer (mein neues Lieblingswort) geblieben. Einer meiner ältesten und besten Freunde ist der Sprecher. Bauen wir zurück? Bauen wir zurück! Baut ab, baut ab, baut auf! Helter skelter!

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Immer noch Baustelle!

„Aber ich weiß, dass ich lieber

hier nicht zu Hause bin als

anderswo.“

(Marlen Haushofer)

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Was soll das werden? Noch eine Heimatseite vulgo Homepage. Ein Gedankenhackblock? Ich weiß es noch nicht. Eitle Selbstbefragung? Die Gefahr besteht immer. Sonst? Die schlafenden Geschichten sortieren am Ende eines anstrengenden Jahres vielleicht. Übrigens: Freue mich jetzt schon auf die Jahresendwünsche. Tenor: endlich ist das böse, böse, böse 2020 vorbei. Und nun das nächste Jahr? Was wird sein? Keine Prognosen. Bevor etwas beginnt, lieber etwas anfangen.

Wir stehen dieser Tage alle ziemlich kippelig an den Rändern rum. Binsenweisheiten geben sich die Hände. Das Fest der Liebe, es naht. „Spiel mir nichts vor!“ Sagt der Regisseur zum Mimen. Oder flüstern sich die Liebhaber einander zu. „Soll man daran arbeiten zu lieben, oder es lieben zu arbeiten!“ Schrieb mal die wunderbare Isabelle Huppert an den wunderbaren Jean-Luc Godard. Wer gemeinsam einen sehr hohen Berg besteigen will, tut sich und dem Partner auch mal weh. Möglicherweise.  Morgen bin ich nun ein Jahr lang verheiratet. „Durch dick und dünn!“ Schrieb die Gemahlin dann auf eine Kreidetafel in der Küche, wo wir in den dreizehn Jahren des vorausgegangenen Zusammenseins eigentlich Einkäufe notierten. Die Entscheidung war nötig und gut. Davon wussten wir vor einem Jahr noch nichts.

Die Einsamkeit, welche dieses Jahr vielen von uns bescherte, ist brutal. Las eben in der FAZ ein Zitat aus Eugene O`Neills Drama „Eines langen Tages Reise in die Nacht.“ Das Stück wurde in meinem Geburtsjahr verfasst. Gut, nicht von Bedeutung. „Ich bin allein. Fühle mich über allen und weit weg von allen. Es war ein großer Irrtum, dass ich als Mensch geboren wurde. Ich hätte mich besser zur Seemöwe geeignet oder zum Fisch.“ Oder als Bär und dann Lachse grillen? Diese Heimatseite ist erstmal eine leere Leinwand. Blick nach oben. Blick nach unten. Himmel und Hölle. Aufklappen. Zuklappen. Das gute alte Kinderspiel.