Seit vier Wochen jeden Sonntag ein Blick in den Himmel im Kopf. Stelle mir vor, ich begebe mich in den Winterschlaf wie ein Bär. Erwache erst, wenn der ganze Mist vorüber. Träume mich durch alte Lieder. Ab und an hebe ich ein Augenlid, blicke in den Himmel und schaue nach, ob es sich lohnt, mich wieder zu bewegen. Jeden Sonntag. Seit vier Wochen.
PS: Plückebeutel ist der Fabelname des Raben. Besserwisserisch, diebisch, dumm, eitel, sagt man, sei er. Nennt man ihn Merkenau, ist es eine Krähe. Die sei naiv und leichtgläubig, behaupten die Fabulierer. Lassen wir das mal so dahingestellt sein.
„Der Vater war 44, als er sich aufhängte. Als ich endlich 45 war, war ich froh. Ich hatte ihn nicht umgebracht, doch ich war älter geworden als er, immerhin. Etappenziel erreicht.“ (Bov Bjerg / Serpentinen)
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So empfand ich am 11. Mai 2004. Nun war ich also älter geworden als der, der mein Vater war. Heute ist es 48 Jahre her, daß er gehen musste, gehen wollte, einfach ging, grußlos. Mit 48 Jahren.
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Bücher wählt man nicht aus, sie suchen Dich. Davon bin ich überzeugt. In meinem privaten, aber auch dienstlichen Leben (ist eh ein und dasselbe!) liefen mir ziemlich gehäuft Bücher über den Weg, die zum Thema hatten Tod, Schmerz, Trauer, die Unfähigkeit dazu, Erinnerungsversuche der Hinterbliebenen, Verarbeitungsversuche der schmerzlich Alleingelassenen. Es brauchte eine Zeit, bis mir die Gedanken aus fremder Feder zu einer Hilfe werden konnten. Fremder Schmerz kann manchmal als aufdringlich empfunden werden, relativiert er doch das eigene, als einzigartig definierte Leiden. Schnell weist man eine aus tiefem Herzen gut gemeinte Empfehlung – „Das mußt Du lesen!“ – als unangemessen zurück. Igelt sich ein. Das ist nicht nötig. Viele meiner Bücher sind Geschenke guter Freunde. Die meisten Bücher aber erwarb ich auf Grund der Lektüre von Querverweisen. Jedes Buch weist auf ein nächstes hin.
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„Der Vater ging voraus, und ich ging hinterher. Im Esszimmer stand ein Kofferradio. Es spielte ein einziges Lied: „Ja Grüezi wohl Frau Stirnimaa, säged Si wie läbed Si, wie Si Si au so draa? Grüezi wohl Frau Stirnimaa, säged Si wie läbed Si, wie gaht’s dänn Ihrem Maa?“
Das Radio spielte ein einziges Lied, die ganze Zeit, und der Vater ging die ganze Zeit um den Tisch herum, und ich ging die ganze Zeit hinterher.“ (Bov Bjerg / Serpentinen)
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Ich liebe die Koinzidenz. Kurz vor Weihnachten stieß auf Bov Bjergs `Serpentinen`. War mir bis jetzt komplett unbekannt. Zu Weihnachten schenkte mir die Schwester Bjergs `Auerhaus`. Ich las die Bücher mit großer Freude, bewegt und aber auch mit Vergnügen. Eine karge, klare Sprache. Humor. Wut auch. Keine Larmoyanz. Kein Blabla.
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Wie soll man es benennen? Selbstmord? Klingt immer noch die Straftat nach, katholisch verboten. Begrabt den Täter vor den Mauern des Gottesackers. Suizid? Eine technokratisch klingendes Fluchtwort. Man vermeidet den Schmerz. Etwas, was das eigene Leben bedrohen könnte. Kein Ausdruck für Betroffene. Selbsttötung? In meinen Ohren ungelenk. Als sei es ein Unfall, ein Zufall gar gewesen. Hand an sich legen? Wie bitte? Der letzte große Abgang, die ultimative Masturbation? Nee. Vielleicht einfach sagen, wie es geschah. Er warf sich vor den Zug. Sie nahm Tabletten. Er erschoß sich. Sie schlitzte sich die Pulsadern auf. Er erhängte sich. Wahrscheinlich das Beste. Oft sehr oft, wurde ich gefragt, sagte ich, mein Vater starb sehr jung. Oder: er ging mit 48. Je nach Gegenüber. Heute meist: Er hat sich aufgehängt.
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„Frieder dachte den ganzen Tag nach. Wenn er was rausgefunden hatte, sah er mich kurz an, als ob er auf eine Einladung wartete. Dann sagte ich „Und?“, und Frieder sagte, was er rausgefunden hatte.
Ich sagte:“Und?“
Frieder sagte: „Ich wollte mich nicht umbringen. Ich wollte bloß nicht mehr leben. Ich glaube, das ist ein Unterschied.““ (Bov Bjerg / Auerhaus)
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Was bleibt? Ein Arschloch wie 1 m Feldweg (aus Auerhaus) oder Du fehlst? Es ist gut, wenn man beides aushalten kann.
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„Frieder sagte: „Das Saufen schiebt den Suizid raus. Manchmal so weit, daß man am Saufen stirbt.“
Manchmal, vor allem in den ersten zwei Jahren der Ausbildung, bekam der Provinzler Besuch aus der alten Heimat. Pflichtprogramm war dann eine ausgiebige Kneipentour. Euphorie und Stolz: auch ich nun in einer Großen Stadt. Immer ein Muß auf der Tour: das BLUE SHELL. Eine Erinnerung: Frühes Nachmittagskölsch. Mehrere. Die Eingangstüre, Doppeltüre, schwingt sich auf, herein fährt „De Plaat“ aka Onkel Jürgen aka Zeltinger auf einem Minimotorrad. Parkt am Tresen rechterhand des Eingangs. Bestellt lauthals Getränke und ruft dann in den noch recht leeren Saal – mit Blick auf seine feingliedrigen Jungs, die meist in seinem Schlepptau auftauchten – außerdem hätte er noch gerne was zum f….! Sofort! Meiner Begleitung fiel die süddeutsche Kinnlade runter. Mir auch, aber als neugeborener Ex – Provinzler tat ich professionell unüberrascht. Mochte diesen Laden sehr. Noch eine Erinnerung: saß hier oft mit C., die sich dort wohler fühlte als in den Kaschemmen der Südstadt, die meist die 70er nicht hinter sich lassen wollten oder konnten.
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C. war in meiner Schauspielschulklasse. Sie spielte im Speckhut mit. Die jüngste Prostituierte. Wir schlichen eine Zeitlang um einander herum, waren beide liiert, so fest, wie man das damals halt war. In diesem Sommer, auch über die hitzigen Proben, fanden wir zusammen und blieben es fast sechs Jahren lang im steten Auf und ab. Nach wenigen Wochen war sie schwanger. Von wem? Wohl ich. Hoffentlich. Gemeinsam entschieden wir den Abbruch. Ich war dabei. Hielt Hand, als das kleine blutige Ding entsorgt wurde. War es vor oder nach der Premiere, ich weiß nicht mehr. C., zäh wie sie war, stand wenig später wieder auf der Bühne. Die Sommerferien verbrachten wir getrennt. Mißverständnisse. Wir hatten den Verlust nicht verarbeiten können. Sprachlos jenseits der Bühne. Im Herbst, kurz vor Beginn des nächsten Semesters steht sie vor meiner Tür. Wieder schwanger. Ich? Möglich. Ich reagiere arschlöchrig. Zwei Tage später gehen wir durch den Park des Klinikums in Porz. Ich war nicht mehr miteingebunden in die Entscheidung. Selber schuld. Idiot!
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Ich hatte schon vor den Ferien am Schauspiel Köln begonnen für Edvard Bonds „Gerettet“ zu proben. Ich spielte – u.a. zusammen mit dem schwarzen M. – einen der Jugendlichen, welche ein Baby in einen Kinderwagen zu Tode steinigen. Regie führte A., eine der Hauptfiguren im oben erwähnten Buch von Ike über den „Speckhutsommer“. Es war ihre erste Regie und potenzierte ihre eh schon vorhandene Verbissenheit. Erst heute, beim Niederschreiben, stehen diese ständigen Begegnung mit dem Tod, auf der Bühne und im Leben, so plastisch vor meinem erinnernden Aug`.
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Wir nahmen die Proben am Speckhut wieder auf. Es war schwierig. Nicht nur da ich, der Halbstarke in „Gerettet“ trug natürlich Skinheadkopp, den Erzähler nun mit einer extra für mich von der Maske des Schauspiels angefertigten Perücke spielen mußte. Meine erste Perücke. Ein Fremdkörper. Kastriert wie Samson hielt ich das Herz in der Hand. Der intensive Sommer glimmte nur noch nach. Das alte Spielfeuer loderte müde und rauchte stinkend vor sich hin. Das Erinnern fiel allen schwer und es wurde mehr debattiert als ausprobiert. Profis waren wir noch lange nicht. Aber wir mussten noch einige Aufführungen – das war der Deal mit dem Verlag – in der Schlosserei des Schauspiel Köln spielen. Davon als nächstes.
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In diesem Herbst zog ich mir eine Entzündung zu, die ich nicht weiter ernst nahm. Jahre später sollte ich erfahren, daß dies der Grund dafür war, daß ich alle Gedanken an Vaterschaft vergessen mußte. Die Wegweisungen dieses langen Sommers.
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Wie schrieb O. uns ins Programmheft? Sie verwechseln das Theater mit dem Leben und das Leben mit dem Theater? Oder andersrum? Er hatte mir geraten um das Kind zu kämpfen. Ich war zu feige. Oder einfach nur zu wirr.