Manchmal ist Stolz halt fehl am Platz

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Stolperte unlängst über ein Zitat von William Blake. Sinngemäß schrieb er, ein Narr müsse konsequent ein Narr bleiben. Dies sei für ihn die einzige Möglichkeit zur Weisheit zu gelangen. Wenn dem so ist, habe ich in letzter Zeit ordentlich Bonuspunkte einsammeln können. Die einen nennen es sich zum Affen machen. Andere sprechen von Liebe. Oder mit Keith Richards: „At least you learned how to love a fool!“

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Schlaflose Nacht. Draußen stürmt es sich ein. Der Regen klatscht gegen die Fenster. Der volle Mond nicht zu sehen. Aber er ist spürbar da. Außerdem macht mein operierter Arm Sperenzien. Gute Gelegenheit die Stadt der letzten wirren und wilden Monate innerlich zu verlassen. So eine Art Schmerztransfer. Das ist in Ordnung. Wo der Schmerz akzeptiert wird, hat das Leiden keine Chance.

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Denkpause. Mal schauen, wo danach gelandet wird.

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Der Zeigefinger erhebt sich

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Wahre Liebe vergibt

Selbstliebe nie

Schrieb er in sein Tagebuch

Hundertmal

So wie man es ihm einst in der Volksschule

Beigebracht hatte

Fünfzehn Jahre nach dem Großen Krieg

Die fünf Finger des Vaters noch

Glühend im Gesicht

Er hat ihm vergeben

Lange schon

Nun brach er auf

die Liebe wiederzufinden

Jene die er

In den letzten Jahren besungen hatte

Diese eine besondere

Liebe

Das war er ihr schuldig

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Du atomisierst mich

Das hatte er noch vergessen ihr zu sagen

Damals

Er kniete auf seinem abgestürzten fliegenden Teppich

Und begann sich einzusammeln

Noch war seine Brille

Beschlagen

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(Gießen / Ende Januar)

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Drei Ambivalenzen

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Die Erwartung des eigenen Todes

Macht die Menschen verrückt

Trennung ein Abgewiesen werden ist Sterben

Mit jedem Tag dem man einem Ende entgegen wandert

Gewinnt ein Gehen

Ein Gegangen werden

An Gewicht

Man wird verrückt vor Angst

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Um sie wieder sehen zu können

Mußte ich sie vom Podest stoßen

Welches ich errichtet hatte

Bombenfest

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Etwas nicht zu tun

Ist meine Spezialität

Sagte sie

Du wirst begeistert sein

Meinen Sockel kann man

Zusammenfalten

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Leere

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Dir entfallen

Alle Worte

Rief mir zu

Im verregneten Wald

Eine erfrischende Leere

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(Klinikum Konstanz / Ende Januar 2022)

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Jetzt fahr’n wir über’n See, über’n See!

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Gestern schrieb mir ein geneigter und auch zugeneigter Leser meiner Verlautbarungen hier eine Mail. (Danke für das lapidare: „Tja!“) Er schrieb von den rückkehrenden Kranichen dieser Tage – ich hatte sie vorgestern auch über mir – und wie er beobachtete, daß sogar Störche sich ein Nest suchen. Dann schreibt er: „Ankunft nach langer Reise, ein schöner stiller Moment. Allerdings auch gedacht: zu früh?“

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Zu früh? Ja. Ist so eine Sache mit den Entscheidungen. Es wird gefordert allenthalben – oft ist man selber Mitglied in diesem gelegentlich schrillen Chor – die schnelle und endgültige und vor allem wirkmächtige Entscheidung. „Du weißt auch nicht, was Du willst!“ Ach Ungeduld! Dinge auszuhalten, ihnen keine Gewalt anzutun – meist sind die „Dinge“ ja Menschen – nicht einfach, manchmal jedoch vonnöten bis dringend geboten.

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Gestern noch gelesen: man möge nicht immer die selben Alleen runterlatschen, will man sich einer vertrackten Situation nähern. Aber auch: beim Blick in die Sterne möge man aufpassen, daß dir der Kopf im Nacken nicht von den Schultern rollt.

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Dulce est periculum (Rendsburg revisited)

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Süß ist die Gefahr

Dulce est periculum

Auf nüchternen Magen kalten Wein

Ich trete meine Ängste stumm

Schmerz verspricht Inspiration

Der Suff erlöst vom Leiden

Der Tod macht Sonderangebote

Der Wind schüttelt die Weiden

Ein Strick geknüpft baumelt hinab

Gesundheit wie vulgär

Der Tunnel ist mein Tanzlokal

Ich fühl‘ mich leicht wenn schwer

Ein Bummelzug die Sonne sank

Wir träumten aus dem Fenster

In dieser Stunde neben ihr

Da schwiegen die Gespenster

In Riesenbögen führt die Brücke

Um unser Glück herum

Ich ritz‘ den Tag in meine Haut

Wir waren so schön stumm

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(Im IC nach Karlsruhe / 24.1.22)

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Kleines PS und Einschub: Saß heute – am 17.2. – in der Notaufnahme des Evangelischen Krankenhaus in Gießen, da ich morgen nochmals unters Messer muß. Während ich vor mich hin wartete, lief im Fernsehapparat vor Ort eine Doku über oben bedichtete Brücke in Rendsburg. Nee, oder? Jetzt ist aber mal gut mit diesen ständigen Querverweisen, bester Freund Kismet! GELLE!

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Ein Winter

*

Der See hat sich zurückgezogen

Ohne Hast breiter der Strand

Eine fahle Sonne schwach

Legt sich an mit dem Hochnebel

Das Glitzern der Wasseroberfläche

Mache daraus kein Versprechen

Keine Wette auf eine Zukunft

Bleibe hier und lausche

Vergangenheit zu Deinen Füßen

Milde nichts einfordernd

Kindheit

Adoleszenz

Euphorie

Stillstand

Ausbruch

Aufbruch

Alter

Grab

Du bist nichts Besonderes

Raunzt eine Möwe

Die Ente putzt sich ihr bescheidenes Gefieder

Morgen schon könnte es schneien

Ein Fischerboot schnurrt vorbei

Plötzlicher Wind

Wirft Wellen ans Ufer

Wieviel Meilen noch zu gehen

Die Füße übernehmen das

Kommando Schweig

Wo gehen wir hin

Ich weiß nicht aber

Wir müssen los

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(Konschtanz am Hörnle / 26.1.22)

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Sturmwarnung

*

Kältegrün

Frostweiße Schaumkronen

In den bleigrauen Dunst geworfen

Aufgepeitscht vom

Wind des Nordens

Schlüpft der See in die

Larve „die See“

Ho Narro

Narri Narro

Tanze Boot Tanze

Der Katamaran jedoch fährt

Seine Flügel aus

Leicht schwankend nur

Hält er den Kurs

Vom Nebelufer her blinken

Die Warnlichter

Der Sturm der Sturm

Er kommt hab acht

Ach

Ich habe ihn hinter mir

Den großen Sturm

Kältegrüne Augen

Frostweißer Abschied 

Lodernde Furcht

Schmiede das Eisen

Heinrich komm und schmiede

Solange noch Tag

Und der Blasebalg bläst

*

(Katamaran FN – KN / 1.2.22)

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Im Winter das Laub zusammenfegen unter einem roten Sommermond

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Ein, zwei, drei Tage will ich noch als „einarmiger Bandit“ das Reimlaub des letzten Winters zusammenfegen, in den Vollmond glotzen und den Herzenskomantsche „Kleiner Wolf“ sein Liebesleid jaulen lassen und dann iss auch mal gut. Freue mich schon auf die Wut. Nein natürlich nicht. Wir sind ja alle so vernünftig. Ähem, also … Gibt es da draußen noch Welt?

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der wolf kennt nur ein einziges lied

*

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

wenn er dem mond ein ständchen singt

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

wenn er mit seinem kummer ringt

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

es jagt ihn seine ungeduld

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

er jault von einer alten schuld

*

der wolf kennt nur ein einzig lied

ein blues der meist in moll

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

und singt die monde voll

der wolf kennt nur ein einzig lied

und reißt das nächste schaf

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

und raubt dem dorf den schlaf

*

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

sie rotteten ihn aus

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

verlassen öd das haus

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

heut‘ nacht kehrt er dir wieder

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

und schenkt‘s dir immer wieder

*

(gießen / januar 22)

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Indian Summer

*

Gestern sammelte ich

Die braunen gelben roten

Blätter

Du hattest sie vom

Baum Deiner Liebe

Hinabrieseln lassen

Ich klebte sie

Wieder an die kahlen Äste

Nein, oh nein, gut sah das nicht

Aus

Nekromantie törichte

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(Klinikum KN / nach OP / Ende Januar 22)

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„Romeo is bleeding but not so as you’d notice … and he’ll die without a wimper like every hero’s dream.“ (Tom Waits)

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Heute schenkt man sich Blumen. Oder Worte. Oder schweigt. Oder redet wie ein Wasserfall über die vielfältigen Pfade, die einen dorthin geführt haben, wo man momentan steht, den Blick zurück. Vielleicht sogar nach vorne. Oder die Augen einfach schließen. Nicht hetzen jedenfalls. Lieder helfen:

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das war mein zweitbestes neujahr

*

wir hatten die fenster geputzt

fremde stiefel traten sie ein

müder neujahrsmorgen

sie kam um die ecke

taumelnd

eine entscheidung ersehnend

die nacht vollgekotzt

neben ihre zukunft

von der sie behauptet später

diese wäre eine

*

er räumt weg die scherben

sie will bleiben

weiter weiter arbeiten im zerstörten raum

trotzig stur

dann ging ich

und du warst beleidigt

warum liebste

habe ich dich nicht verlassen

jein nee ja

ja nee jein

*

es müßten sich die dinge ändern

im neuen jahr

murmelte ich dich haltend

zu fest

du bist erstarrt

eingefroren

ich schlug mir mit dem sinnlosen hammer suff

auf mein wundes herz

welches leugnete den verlust

sowie du leugnestest

den gewinn

*

(5.1.22 / Kiel / Angler / Tagesbierkneipe)

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*

ich möchte daß meine Liebe stürbe

daß es regnet auf den Friedhof

und in den Gassen wo ich gehe

jene beweinend die mich zu lieben glaubte

*

(samuel beckett)

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weitergeh’n in ruh‘

aber da ist ein kiesel

in meinem schuh, Du

*

(gießen / 14.2.22)

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„Jeder Mensch ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemanden zeigt.“ (Mark Twain)

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Keine Liebesgedichte mehr

*

Das Wasser welches die

Badewanne eig’nes Leid

Überlaufen ließ

Hat inzwischen die Kläranlage

Verlassen

Rauscht Richtung Meer

Der Mond zieht sie zu sich

Die letzten losen Worte

Die ich auf einem

Papierschiffchen ausgesetzt

Der Strömung übergeben hatte

Auf der Rückseite des Mondes

Dort fände sie mich

Ich wäre schon mal vorgeflogen

*

Ich drehte an den Rädchen

Meines Empfängers

Signalstörungen der Äther fiept

Ein paar verirrte Funksignale

Hadern mit den Frequenzen

Die Tankanzeige zuckt nervös

Die Landebahn im Dunkeln

Black out

Keine Liebesgedichte mehr

*

Alles was ich je losgelassen

Trägt Krallenspuren

*

„Das Aufhören ist Teil jeglicher Aufgabe.“ (Leslie Jameson)

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Von der Zuneigung unter den Wölfen

…..

…..

*

Wolfsstunde

*

In der Stunde des Wolfes

Wenn im Tiefschlaf das

Ruhelose Gehirn

Archaisches Adrenalin

Durch die Adern schießt

Alte Gefahren erinnernd

Wölfe welche die Dörfer

Umkreisen

Ihre Choräle

Der selbstgewählten Einsamkeit in den

Mond heulend

Greife ich nach meiner

Durchgeladenen Flinte

Stelle mich an

Den Gartenzaun der

Mein dämmerndes Bewußtsein

Einhegt

Und nehme ins Visier

Die Sorgen Nöte die Unbill

Schwarz und weiß

Fauchen sie sich an

Unerbittlich

Schlagen sich die

Krallen in die Haut

Der bleiche Nachtmond wirft

Ihre Schatten bis an das Ende

Meines Horizonts und

Der Schlaf lacht mich aus

Tickende klickende Hülle Haut

Karussell ungebremst

*

Das nahende Dämmern

Des kommenden Tages gewährt

Gnade lindernde und die Wölfe

Trollen sich

Sie köteln ein paar wirre Traumbilder

Milder jedoch

Vor meine Tür

Ich erwache in ein

Warmes Grau hinein

Und schreibe heute von

Den Zwischentönen

Versöhnt bis zur nächsten Nacht

Wolfsstunde

*

(Konstanz / Februar 2022)

…..

Die Lagerräume des eigenen Geistes

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War vor knapp drei Wochen an den Bodensee gefahren. Wollte mir etwas an Ruhe suchen, um Herz, Hirn und Körper zu ein wenig Klarheit – was immer dies auch sein mag – zu verhelfen. Nach weniger als zwei Tagen stürzte ich im vom Regen durchweichten Wald – ein gerüttelt‘ Maß an Dummheit beförderte diesen Fehltritt – und renkte mir äußerst kompliziert mein Handgelenk aus. Ab in den OP, dort wurde ich verdrahtet und seitdem überlagern – meist aushaltbare – körperliche Schmerzen die Verwirrungen der letzten Wochen.

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Nichtsdestotrotz – meist schien die Sonne und verjagte den Hochnebel – lief ich täglich mehrere Stunden, meinen geschienten Arm in einer Schlinge vor mir hertragend, durch die alte Heimat. Von mir weg oder vor mir weg, wer weiß das schon, gelegentlich aber auch hin zu mir. Wer immer ich, frei nach Bob Dylan, auch sein mag dieser Tage.

*

Meine Füße hatten das Kommando übernommen. Sie erinnerten sich für mich und führten mich durch Straßen, Wälder, Hinterhöfe, Anhöhen, welche ich teilweise seit Jahren, ja Jahrzehnten, nicht mehr besucht hatte. Meine Grundschule. Unsere erste Wohnung. Im Wald dahinter der Hügel, wo ich das erste Mal rodelte. Der Schulhof auf dem ich Fahrrad fahren lernte. Das Haus in dem meine erste Freundin wohnte. Sie wohnt da noch immer. Der runtergekommene Hinterhof hinter der Hinteren Sonne, der zur Teestube führte. Von dort zur Bank, wo mir der erste Joint gereicht wurde. Das Ufer am Wasserwerk, wo wir die ersten Nächte am Lagerfeuer durchwachten. Trennungsbänke im Hörlepark. An der Schmugglerbucht. Sonnenhalde, Fürstenberg, Allmannshöhe, Riesenberg. Anhöhen im Stadtgebiet, von denen aus man bei Föhn den Säntis anfassen kann. Das einst so schön behäbige Sierenmoos, entsetzlich zugeparkt – diese Klage sei erlaubt – mit entsetzlich häßlichen Automobilen. St. Katharinen mitten im Wald. Wir fuhren mit dem Leukoplastbomber über Waldwege dorthin. Der Vater ein Bier. Die Kinder eine Bluna. Später Jahrtzehnte des Zerfalls. Nun wieder bewirtschaftet. Irgendwann stand ich bei den Tennisplätzen am Hörnle. Steht der Baum noch, an dem heute vor neunundvierzig Jahren mein Vater aufgegeben hatte?

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Und das Gute an diesen Gängen war, sie waren – endlich? – frei von jeglichen dem Alter geschuldeten Sentimentalitäten. Eher so ein verwundertes „Sieh an! Was so alles geschah!“ Die Reime unten zielten eigentlich woanders hin, las sie heute Morgen und dachte an den heutigen Todestag. Vor dem Fenster in Gießen hörte ich dabei Kraniche schreien. Sie kehren nach Hause zurück. Vor der Zeit?

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Den Lagerräumen des eigenen Geistes entkommen

*

Gestern noch von schwärmerischer

Ungeduld erfüllt eile ich

In den Lagerräumen des

Eigenen Geistes

Von Regal zu Regal

Schichte um sortiere suche

Reiße Aktenordner aus den

Fächern Schubladen Pappkartons

Blättere fluche finde nicht

Auf dem Boden alles ausgebreitet

Die Beweisstücke

Wütend beginne ich zu

Shreddern

Um sogleich den Verlust zu beklagen

Die eine Kladde jedoch

Bleibt mir verborgen

In die ich einstmals notierte

„WARUM DAS GANZE NUR?“

Der Schlüssel stecke nicht

Innen im Schloß so dachte ich

Welche Täuschung!

*

(Konstanz – Staad / Ende Januar 2022)

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