Manchmal, vor allem in den ersten zwei Jahren der Ausbildung, bekam der Provinzler Besuch aus der alten Heimat. Pflichtprogramm war dann eine ausgiebige Kneipentour. Euphorie und Stolz: auch ich nun in einer Großen Stadt. Immer ein Muß auf der Tour: das BLUE SHELL. Eine Erinnerung: Frühes Nachmittagskölsch. Mehrere. Die Eingangstüre, Doppeltüre, schwingt sich auf, herein fährt „De Plaat“ aka Onkel Jürgen aka Zeltinger auf einem Minimotorrad. Parkt am Tresen rechterhand des Eingangs. Bestellt lauthals Getränke und ruft dann in den noch recht leeren Saal – mit Blick auf seine feingliedrigen Jungs, die meist in seinem Schlepptau auftauchten – außerdem hätte er noch gerne was zum f….! Sofort! Meiner Begleitung fiel die süddeutsche Kinnlade runter. Mir auch, aber als neugeborener Ex – Provinzler tat ich professionell unüberrascht. Mochte diesen Laden sehr. Noch eine Erinnerung: saß hier oft mit C., die sich dort wohler fühlte als in den Kaschemmen der Südstadt, die meist die 70er nicht hinter sich lassen wollten oder konnten.
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C. war in meiner Schauspielschulklasse. Sie spielte im Speckhut mit. Die jüngste Prostituierte. Wir schlichen eine Zeitlang um einander herum, waren beide liiert, so fest, wie man das damals halt war. In diesem Sommer, auch über die hitzigen Proben, fanden wir zusammen und blieben es fast sechs Jahren lang im steten Auf und ab. Nach wenigen Wochen war sie schwanger. Von wem? Wohl ich. Hoffentlich. Gemeinsam entschieden wir den Abbruch. Ich war dabei. Hielt Hand, als das kleine blutige Ding entsorgt wurde. War es vor oder nach der Premiere, ich weiß nicht mehr. C., zäh wie sie war, stand wenig später wieder auf der Bühne. Die Sommerferien verbrachten wir getrennt. Mißverständnisse. Wir hatten den Verlust nicht verarbeiten können. Sprachlos jenseits der Bühne. Im Herbst, kurz vor Beginn des nächsten Semesters steht sie vor meiner Tür. Wieder schwanger. Ich? Möglich. Ich reagiere arschlöchrig. Zwei Tage später gehen wir durch den Park des Klinikums in Porz. Ich war nicht mehr miteingebunden in die Entscheidung. Selber schuld. Idiot!
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Ich hatte schon vor den Ferien am Schauspiel Köln begonnen für Edvard Bonds „Gerettet“ zu proben. Ich spielte – u.a. zusammen mit dem schwarzen M. – einen der Jugendlichen, welche ein Baby in einen Kinderwagen zu Tode steinigen. Regie führte A., eine der Hauptfiguren im oben erwähnten Buch von Ike über den „Speckhutsommer“. Es war ihre erste Regie und potenzierte ihre eh schon vorhandene Verbissenheit. Erst heute, beim Niederschreiben, stehen diese ständigen Begegnung mit dem Tod, auf der Bühne und im Leben, so plastisch vor meinem erinnernden Aug`.
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Wir nahmen die Proben am Speckhut wieder auf. Es war schwierig. Nicht nur da ich, der Halbstarke in „Gerettet“ trug natürlich Skinheadkopp, den Erzähler nun mit einer extra für mich von der Maske des Schauspiels angefertigten Perücke spielen mußte. Meine erste Perücke. Ein Fremdkörper. Kastriert wie Samson hielt ich das Herz in der Hand. Der intensive Sommer glimmte nur noch nach. Das alte Spielfeuer loderte müde und rauchte stinkend vor sich hin. Das Erinnern fiel allen schwer und es wurde mehr debattiert als ausprobiert. Profis waren wir noch lange nicht. Aber wir mussten noch einige Aufführungen – das war der Deal mit dem Verlag – in der Schlosserei des Schauspiel Köln spielen. Davon als nächstes.
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In diesem Herbst zog ich mir eine Entzündung zu, die ich nicht weiter ernst nahm. Jahre später sollte ich erfahren, daß dies der Grund dafür war, daß ich alle Gedanken an Vaterschaft vergessen mußte. Die Wegweisungen dieses langen Sommers.
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Wie schrieb O. uns ins Programmheft? Sie verwechseln das Theater mit dem Leben und das Leben mit dem Theater? Oder andersrum? Er hatte mir geraten um das Kind zu kämpfen. Ich war zu feige. Oder einfach nur zu wirr.
Teilzeit – Vaqueros waren wir in diesen Tagen. Keine Prinzen aus Dänemark oder dem Staube Brandenburgs, keine strahlenden Ritter unterm Holderbusch, verliebt ja wie ein Käfer und keine vatermeuchelnden Söhne, nein, wir lebten in der Welt imaginierter Rinderhirten aus dem Sertao, den kargen Steppen im armen Nordwesten Brasiliens. Vaquero, wieviel stolzer klang dies als das Kaugummi kauende Cowboy. Don’t fence me in. Alles schien möglich. Reine Toren. Betonung auf rein. Nicht sauber, aber rein.
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Während dem Rinderhirte, so die Erzählung, der Hang zur Wortkargheit eigen ist, quatschten und quasselten wir ohne Unterlaß. Wenn nicht auf den Proben, den Nachbereitungen derselben oder den häufigen Vollversammlungen – gerne inklusive Gebrüll und Tränen und Pathos – geschah dies, schon allein um Gebrüll und Tränen und Pathos aufzuarbeiten, in den Kneipen. Drei waren innert zwei Minuten fußläufig erreichbar. Die kleinste rechterhand der Toreinfahrt zu unserer Schule. Hier stand der beste Flipper, also der, der am großzügigsten Freispiele ausspuckte und nicht so schnell tilte. An der Ecke zum Luxemburger Wall eine typisch kölsche Eckkneipe, vor allem zum Fußballschauen genutzt, war ja schließlich WM in Spanien in jenem Jahr. Da sahen wir wie der aufsteigende Stern Maradona einem Brasilianer in den Magen trat und bevor der Schiedsrichter Rot zücken konnte, schon vom Platz marschiert war, wir sahen dort die Schande von Gijón, schämten uns und feierten die starke kölsche Fraktion in der Nationalmannschaft, die sich am sogenannten Schlucksee gewissenhaft auf das Turnier vorbereitet hatte. Ein Kölsch geht noch. Dann Proben oder Unterricht oder auch mal Bürodienst oder Treppenhaus putzen. Diente alles der Ausbildung. Tatsächlich. Abends dann zu Kitty, dem Hauptsitzungsort. Auch mit gutem Flipper ausgestattet. Und soviel mehr.
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Der schwarze M. – es gab noch den blonden M., damals liiert mit K. aus unserer Klasse – sowie T., damals noch K. und ich pflegten in diesen Sommer ein Ritual: Mittagsessen beim weltbekannten Bullettenschnellbrater am Barbarossaplatz. Dort lag Toni „Der Tünn“ Schumacher quer in der Luft und rief uns zu: „Fang Dir den BIG MÄC.“ Machten wir gerne. Mehrmals die Woche. Danach noch zum Büdchen: süßen Krempel kaufen. Mit den Duplobildchen garnierten wir später die Rückseite des Bühnenbilds. Kindsköppe. Apropos Flippern, der schwaate M., leider allzu früh vom Krebs abberufen, war in unserer Truppe der kaum schlagbare Pinball Wizard. Er sollte, für mich das größte Talent der Gruppe, nach seinem ersten Engagement den noch frischen Beruf an den Nagel hängen. Zu viel Stress. Sagte er, erbte und wurde Privatier.
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Zu Kitty. Sie hieß nicht so, war aber blond und resolut und ich glaube man hatte sie nach der Saloondame in ‚Rauchende Colts‘ so genannt. Sie schmiß die Theke dieser wunderbaren Nachbarschaftskneipe. Ihr Mann, ein Studierter, was man ihm nicht ansah, stand in der Küche und briet die besten Frikas in Town. Dazu Äadäppelschlott und Erbsen mit Möhrchen. „Schmälchen, Du musst wat essen. Du fällst ja vom Fleische.“ Kitty kümmerte sich. Ich war damals wirklich ein Hungerhaken. Dort saßen wir, die Theatermäxchen und das eigentliche Publikum ließ sich von uns nicht weiter stören. Und wir redeten die Welt auseinander und quatschen sie wieder zusammen. Mit oder ohne unsere Lehrkräfte. Meistens mit. Noch eine Runde. Kritik mit Kölsch und umgekehrt. Manchmal, wenn die letzte Frika verzehrt, zog der Mann von Kitty – Hieß er Ernst? Weiß nicht mehr! – die Decke von seiner Hammondorgel und spielte und sang. Freddy, Kölsches, aber auch mal Brecht und Weill. Da staunten wir, die kleinen Haie ohne Zähne. Letzte Runde. Ne Schabau noch.
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Wir sangen mehr als das wir schliefen in jenem Sommer. Alles war so bedeutsam, aufgeladen, freundlich und wurde so heiß gegessen wie es gekocht wurde oder gestrickt war. Und dann war da ja auch noch die Liebe, jene jenseits der Bühne. Helter Skelter. Davon später. Waren die Vaqueros müde und trunken, verabschiedeten sie auf dem Heimweg in die Südstadt mit frisch ausgebildeter Sangesstimme gerne mal den alten Tag. Oder grüßten den Neuen. War natürlich gelogen, was wir krakeelten, außer von meinem Freund T., wie er nun hieß. Aber eine schöne Lüge war dieses Lied:
„Sonne und Regen … Die Füchsin verheiratet ihre Tochter. Noch ist September. Was sollen wir tun? Warten. Auf den Regen harren, auf den ersten Donner … Warten. (Pause)“
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Die Pause war lang. Das war damals so eine Art künstlerische Mutprobe. Wie lange halte ich auf einer Bühne eine Pause aus. Und verliere nicht die Konzentration. Ungeschlagener Weltmeister in dieser Disziplin war mein guter Freund T., damals noch K. genannt. „Heinrich! Die Pause ist zu lang!“ Andere Geschichte. Ich stand also zu Beginn des „Speckhuts“ als Erzähler auf einem Erdhaufen, regungslos, barfuß in Unterhose, einen roten Lackledermantel übergeworfen, in der Hand einen Plastikbeutel. Darin ein blutendes Schweineherz. Ein echtes!
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„Ich habe kein Herz mehr. Als ich noch lebte, sagten die Leute, ich hätte kein Herz, aber das stimmt nicht. (Er lacht, schwenkt den Beutel mit dem blutenden Herz) Heute ist mein Herz Erde und Wind … Mira hab ich verziehen.“
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O. schrieb uns zur Premiere ins Programmheft: „An meine Schauspieler: Sie verwechseln das Theater mit dem Leben und das Leben mit dem Theater.“ Meine Axt war scharf, wir schmissen Flaschen – kein Zuckerglas – krachend gegen ein altes Eisentor, trugen bei kleinen Verletzungen stolz unsere Pflaster und K. mußte vor jeder Vorstellung zwei große Cola trinken, um dann erfolgreich in einen Blecheimer hinten in der Ecke zu schiffen. Ein herrlich wahrhaftiges Geräusch. Wir betrieben ein bisserl Hardcore Method Acting. Echte Tränen waren die Meßlatte. O. wollte das so und wir machten gerne mit. Grenzwertig? Haben wir nie drüber nachgedacht. Warum auch.
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„Ich erinnere mich, erinnere mich deutlich der Nacht, in der ich Mira mit der Axt den Kopf spaltete. Mitten ins Hirn der schlafenden Mira schlug das Beil. Die alte Vettel Jorobabel lief herbei und sammelte die weißen Gehirnfetzen auf, als wollte sie den Kopf ihrer Freundin zusammenflicken. Ich bereue nichts. Heute ist es mir gleich. Und sie sagen ich hätte kein Herz, das ist nicht wahr. Aber im Mai wurde Hochzeit gemacht.“
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Das war die Geschichte des Speckhut: Ein armer Vaquero, eine Art brasilianischer Woyzeck, hatte im Eifersuchtswahn seine junge Frau erschlagen, weil sie es, arm wie sie waren, für dringend nötiges Geld mit dem Großgrundbesitzer trieb. Der Erzähler, ein Art Reinkarnation des Mörders, verdiente sein Geld als Zuhälter und damit, als eine Art theatrale Buße, mit seiner Truppe von Wanderschauspielern die Geschichte der Tat immer und immer wieder zu erzählen. Ike, wie wir sie alle nannten, war bei dieser Produktion Dramaturgin und Protokollantin und schrieb auf die Geschichte unseres Versuches die Geschichte zu erzählen in diesem heißen, verwirrenden und verwirrten, euphorisch schmerzlichen Sommer 1982, ich dem ich einiges gewann und viel verlor. Noch eine Geschichte. Hier im Rahmen der Eitelkeitsgymnastik noch ein Ausschnitt aus Ike’s Bericht.
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„Christian, der Erzähler. Ein langer, dünner Kerl mit tief in den Höhlen liegenden Augen und einer weit vorstehenden, zweimal gehökerten Nase. Wie ein Geier. Er hielt sich, weil er so lang und dünn war, nach vorne gebeugt. Als wollte er uns in seiner Kleinheit entgegenkommen und sie uns nicht spüren lassen. Ihn anzuschauen stimmte uns alle gleich weicher. Sein Körper beschrieb eine Kurve der Anteilnahme. Er war die Seele der Gruppe. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Sein schulterlanges Haar hing ihm wie einem nassen Reiher vom Kopf. Als Erzähler war er der Einzige im Stück, der eine durchgehende Rolle hatte. Und er konnte, wie ein Reiher, einfach stillstehen und dabei immer durchsichtiger werden, als wäre er ein Teil der Umgebung. Lemmy hatte ihm aus irgendeinem Grund einen langen, schwarzen Ledermantel mitgebracht, in dem er wohl selbst rumgelaufen war. Christian sollte ihn als Kostüm tragen, zumindest für die Proben, aber er zog ihn nicht mehr aus.“
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PS: Ike schrieb dann unter vielen anderen auch ein Buch über die Erinnerung an ihre Studienjahre in einer kleinen häßlichen Stadt in Mittelhessen. Hätte mir damals jemand prophezeit, daß ich dort mal landen würde, vielleicht hätte ich die scharfe Axt geworfen. Damals.
Der Sommer des Jahres 1982 war, wie man in den wesentlichen Almanachen nachlesen kann, ein warmer und sehr sonnenreicher. Und einer der früh begann und spät endete. Als hätte er geahnt, was auf ihn folgen sollte, streckte er die Dauer seines freundlichen Regiments so gut es ging bis in den Oktober hinein. Schon Mitte März stand ich mit bloßem Oberkörper auf dem Flachdach einer stillgelegten Druckerei in einem Hinterhof der Kölner Luxemburgerstraße. Als vollwertiges Mitglied der „Brigade Dach und Boden“ – ja, liebe Kinder, so etwas gab es damals auch im Westen der BeErDe – versuchte ich unter der Anleitung eines richtigen Handwerkers – der konnte alles, sein einziges Manko war, er kam von der Schääl Sick, schlimmer noch: aus Leverkusen – zusammen mit 3 oder 4 anderen Kollegen besagtes Flachdach mit Teerpappe und röchelnden Flammenwerfern halbwegs dicht zu kriegen. Wir, das waren Schauspielschüler der damals kölnweit legendären Schauspiel – Lehrwerkstatt e.V. – kurz und knapp und ab hier: der SLW. Unsere Bemühungen sollten nicht von Dauerhaftigkeit gesegnet, denn kaum trat der lange Sommer 82 ab und machte kräftiges Tiefausläufern und der sogenannten geistig moralischen Wende Platz, regnete es rein in unsere selbst ausgebaute Theaterfabrik und bald darauf mußten wir weiterziehen, in das damals kölnweit nicht weniger legendäre Stollwerck.
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Wie kommt nun ein Schauspielschüler aufs Dach und versucht es zu decken? Ich hatte im September 1980 meine Ausbildung zum Schauspieler an der dem Theater Der Keller angegliederten Schule begonnen. Nach wenigen Wochen dort erkrankte die Theater – und Schulchefin – eine durchaus machtverliebte Dame, welche das Institut etwas altbacken führte, ziemlich schwer. Da abzusehen war, dass ihre Abwesenheit länger dauern würde, übernahmen unsere Lehrer die Verantwortung in einer Art Kollektiv und haben den Laden so nebenbei innert kürzester Zeit in Sachen Kommunikation und Führungskultur kräftig durchgepustet. Uns Schülern gefiel das, waren wir doch in wesentliche Entscheidungen miteingebunden. Zu Beginn des nächsten Jahres kehrte die Chefin zurück, schaute sich um, war entsetzt und wollte sogleich die Uhr zurückdrehen und zudem den einen oder anderen der aufsässigen Lehrkräfte zum Teufel jagen. Das gefiel uns allen nicht. Eine Vollversammlung jagte die andere. Ergebnis: praktisch alle Lehrer und alle Schüler standen auf, verließen die Schule und gründeten eine neue, eben die SLW. Unterschlupf fanden wir – die damaligen Chefs des Schauspiel Köln J. Flimm und V. Canaris unterstützen uns gerne – zuerst auf nicht genutzten Probebühnen der Bühnen der Stadt Köln, in der Roßstraße und am Ubierring. Dies nur für die Eingeweihten. Gelegentlich, wenn das Wetter es zuließ, hielten wir den Unterricht schön öffentlich auch im Volksgarten in der Kölner Südstadt ab. KStA und EXPRESS schaden ja nicht, wenn die vorbeikommen und berichten. Dann fanden wir für ein knappes Jahr eine Heimstatt im Druckhaus Deutz, gründeten dort das Theater Deutzer Freiheit, brauchten wir, da wesentlicher Bestandteil der Ausbildung Projektunterricht war und unsere Ausbilder meinten, man könne gar früh genug dem Löwe Publikum ins geöffnete Maul schauen. Als Anfänger durfte ich den älteren Kollegen bei den ersten Projekten die Requisiten bringen und das Bühnenbild abräumen. Ehrenvolle Aufgaben. Dann mußten wir Anfang 1982 raus aus dem Druckhaus. Große Bauvorhaben der Stadt ante portas. Heute steht da die Köln Arena. Und wir zogen um, ein drittes Mal, ließen Ausbildung Ausbildung sein für zwei oder drei Wochen, teilten uns auf in Brigaden und schufen ein Theater, Probenräume und auch das ein oder andere Verwaltungszimmer. Um die Ecke, im Luxemburger Wall wohnte einer unserer Lehrer. Dessen Küche wurde Kantine. Und es ward Sommer, wir feierten ein großes Einweihungsfest und – unsere Klasse, die E – war nun dran mit einem Theaterprojekt. Die Proben begannen.
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„Speckhut“ hieß das Stück. (PS: Unbedingt die Leseprobe anklicken!) Regisseur war O., so ein bisserl der Guru unter den Lehrkräften, im Übrigen alles Regisseure und / oder Regisseurinnen, die nicht nur an der SLW arbeiteten, sondern regelmäßig am Theater Regie führten. Deshalb „Werkstatt“: die Praxisnähe. Those were the Zeiten. O. also, dessen Gunst zu genießen vielen, vor allen den weiblichen Mitgliedern der E durchaus wichtig war, gut, auch ich war nicht gefeit davor zu buhlen, hatte dieses nur einmal in der DDR aufgeführte Stück ausgegraben und bearbeitet. Armes Theater aus Brasilien. Armes Theater über arme Leute. Für arme Leute. Ich sollte spielen den Erzähler.
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„Nein, wir machen weiter! Was wir hier und heute spielen, ist etwas, was wir noch nicht wissen können, was noch geschehen wird, etwas aus der Vergangenheit, was nicht vergangen ist, was nicht vergangen sein kann, das spüren wir genau. Was, so vergangen es sein mag, noch nicht, noch immer nicht angekommen ist. Wir sind in unserem Hochland so etwas wie Gespenster, die kommen auch nur einmal, und dabei kommen sie zurück.“ Das hätte ein Christian 1982 auf einer Probe gesagt, auf einer Durchlaufprobe von „Speckhut“, in einem Hinterhof an der Luxemburgerstrasse im Köln des Sommers 1982, als der Regisseur den Durchlauf unterbrach und das Ganze von vorne beginnen wollte. Woher ich das weiß? Es gibt ein Buch über diesen ganz besonderen Sommer.
Las unlängst, weiß gar nicht mehr wo und wann genau, das Beste was man in diesen virulenten Tagen, Wochen, Monaten tun könne, sei frei nach Proust sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben und mit seinen Erinnerungen spazieren zu gehen. Muß wohl ein Wink des Unterbewußtseins gewesen sein diese Seite ins Leben zu rufen, wobei ich schon wieder vergessen habe, in welcher Gehirnhälfte Selbiges haust, das Unbewußte selbstredend. Lechts und rinks kann man leicht verwechsern. Unterbewußtsein! Oberbewußtsein? Gibt es nicht. Manche munkeln vom Überbewußtsein. Wo wohnen die Erinnerungen?
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„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.“ Das Buchmonstrum, genauer gesagt, die Büchermonstren, seit Ewigkeiten spricht das Lesemännlein zu mir: Kaufen! Lesen! Neue Ausgabe! Neuübersetzung! Jetzt! ES TUN! Die Chance. Wird wohl beim Ruf bleiben, ähnlich wie der Mann ohne Eigenschaften und Ulysses, sogar in originaler Penguin – Ausgabe, in meinem Bücherregal wohnen und dort schlafen, wie einst die ZEIT unter meinem Arm, die ich letztlich des Rätsels im Magazin wegen erwarb. Ungelesen gelesen quasi, Wartebücher über die und nicht in denen ich regelmäßig lese. Ein Buch, welches mir meine Schwester vor Jahren schenkte, habe ich dieser Tage endlich zu Ende gebracht, fast, 30 Seiten fehlen noch. Wußte nicht, daß Gehirnforschung so unterhaltsam serviert werden kann. Und lehrreich. Damit sind wir beim Thema: Dem Blumenspaziergänger.
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Erste Gedanken:
Der Blumenspaziergänger
Ein Dialog über das Erinnern
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Personen
Mann (ein Schauspieler kurz vor oder nach dem Erreichen des Rentenalters)
Frau (eine Schauspielerin, 10 – 20 Jahre jünger, muß sehr wandlungsfähig sein, da sie 6 verschiedene Varianten ihrer selbst zu spielen hat)
Ein Musiker oder eine Musikerin (Cembalo und / oder Harfe vielleicht)
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Zu dem zu verfassenden Stück regte mich an ein Geschehnis im letzten Sommer: Landkreis Gießen: 66-jähriger Thüringer zu Fuß auf Autobahnen unterwegs. Der Mann war mit seinem Auto liegen geblieben, verkaufte Blumen, um damit einen Notkanister Benzin zu bezahlen, fand dann aber seinen Wagen nicht wieder und spazierte auf zwei Autobahnen herum.
Das Stück beginnt und endet auf einer mittelhessischen Polizeiwache. Verhörsituation. Man will herausfinden, was den etwas skurrilen älteren Herren zu seiner Aktion bewog. Da er darauf besteht nur mit Frauen zu sprechen, sein Wunsch wurde ihm erfüllt, versuchen nun eine Polizistin, eine Rechtsanwältin, eine Psychologin, eine Pastorin, eine Krankenschwester und eine ehemalige Geliebte / Frau / Mutter – mal sehen – zum Reden zu bringen. Der Mann, gefangen in einem anfangs kaum zu entwirrendem Gestrüpp von widersprüchlichen Erinnerungen, findet nach und nach zurück zu dem Anlaß, der ihn über die Autobahn laufen ließ. Dement ist er nicht, er traut sich nur selber nicht so recht über den Weg. Vor allem seinen Erinnerungen. Ist das sein eigenes Leben oder das eines Anderen, von dem er spricht? Die Frau(en) lassen nicht locker.
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Erste Kurzbiographie des Mannes: Geboren 1955, aufgewachsen in der DDR, am 19.8.1989 (magische Zahlen?) über Ungarn im Rahmen des Paneuropäischen Frühstücks in den Westen, nach Aufenthalt im Notaufnahmelager Gießen Umzug in den Süden, dort Arbeit gefunden als Lokführer bei der Schweizer Eisenbahn. Ende der Neunziger laufen ihm innert kurzer Zeit dreimal Menschen vor seine Lok. Das wirft ihn aus der Bahn. Reha, Versuche in den Beruf zurück zu kehren, privates Chaos, Scheidung, schließlich Berufsunfähigkeit und Frührente. Rückkehr nach Thüringen. Alkoholprobleme. Entzug. Arbeitet nun nebenher als Grabredner und Mietmusiker für Hochzeitem und Geburtstage. Dann die letzte Reise in den Westen.
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So weit, so gut. Jetzt an die Arbeit. Ein erster Text:
Mann
Ich habe den Nebel immer geliebt. Das Weiche. Das Wattige. Der noch sommerwarme See dünstet sich aus, im Schilf sammeln sich die Wassertröpfchen, kondensieren und kriechen an Land, als wollten sie das sich abkühlende Land in den See hineinziehen zu einem letzten Bad. Meine Lokomotive – so schien es mir immer– sie fährt dann nicht mehr, nein sie schwebt hinein in das milchige Weiß, langsam, ganz langsam, wie die Lenorflasche, die in dieser alten Fernsehreklame in Zeitlupe in das weichgespülte Kissen fiel. Und es wird stiller und stiller. Die Fahrgäste schauen aus den Fenstern und schweigen. Ihre Blicke suchen den See. Doch der ist verschwunden. Seine kondensierte Restwärme läuft die Scheiben meines Führerstandes hinunter. (Pause) Auch letztes Jahr kam der Herbst. Gerade hatte ich meiner Frau eine SMS geschickt. „Plan 100%. Kartoffeln aufsetzen.“ Dann teilte sich das Schilf. Rechter Hand. Wie gesagt: Heimfahrt. Ich drückte auf Notbremsung, die Bremsen schrieen auf und der Nebel färbte sich mit einem dumpfen Schlag blutrot.
Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist!
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Ein Baum kann nicht blühen, wenn keine Sonne scheint.
Und es gibt keinen Fluß, wenn kein Regen fällt.
Und es gibt keine Wahrheit, wenn wir sie nicht suchen.
Und es gibt keine Freiheit, wenn wir sie nicht nehmen.
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PS 1: Letzten Samstag wäre Rio Reiser 71 geworden. Gerade noch dran gedacht. Er fehlt.
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PS 2: Für die beiden Fotos vom „König von Deutschland“ danke ich mit liebem Gruß Udo Herbster, dem genialen Bühnenbildner seinerzeit. Oben Bühnenbildmodell, unten Beleuchtungsprobe. Das waren die guten Tage.