Vor den verhängten Spiegeln das Schneiden von Grimassen üben

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We’ve got to fool the fools

We got to plan the plans

We got to rule the rules

We got to stand the stands

We got to fight the fight

We must fall the falls

We got to light the light

We got to call the calls

We must race the race

So we can face the face

We got to race the race

We must race the race

So we can face the face

Face the face

We got to face the face

(Pete Townsend)

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10 Uhr Nachrichten. Tankgutscheine her oder hin. Habeck bettelt in Katar um unseren Stoff. Weil unser alter Dealer durchknallt. Magath will Hart Härter Hertha retten und ist positiv. Keine Masken mehr. Oder doch und warum dann? „Nicht die Impfpflicht ist eine Zumutung, sondern keine Impfpflicht ist die Zumutung!“ Das ruft die jüngste Abgeordnete wütend ins Hohe Haus. Die Virustoten hier zu Lande? Stand heute: 126420! Schreibe:

Einhundertsechsundzwanzigtausendvierhundertundzwanzig.

Die Toten in der Ukraine sind nicht zu zählen. Die Toten, welche unser durchgeknallter Lebensstil weltweit produziert, noch nicht mal hochzurechnen. Ach ja! Man kann den Frühling schon richtig spüren. Oh welch Erkenntnis! Ist auch in jeder Nachrichtensendung dieser Tage tatsächlich mehrere Zeilen wert. Und die Sehnsucht nach den Helden, dem Heldentum in diesen Tagen. Ich verstehe das tiefe Bedürfnis endlich das gesamtgesellschaftliche Hotel Mama verlassen zu wollen – nun ja, wer es sich halt leisten konnte, dort ein Zimmer bezogen zu haben – um wieder ein richtiger Mann zu werden. Zumindest auf dem Sofa und von Genosse Putin beheizt. Kein deutscher Mann zwischen 18 und 60 dürfte das Land verlassen! Gelle! Auch nicht zum Kite – Surfen? Oder einfach nur zum Shoppen in Dubai? Nein, mein Lieber. Ja, aber ich bin doch geboostert! Junge, da verwechselst Du leider etwas.

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Man sollte weiterhin vorsichtig sein und halt ein bisserl langweilig bleiben. Held und Held ist leicht zu verwechseln. Deutschland und seine Ahnen haben, wenn, stets Angriffskriege geführt, nie Verteidigungskriege. Und schon gar nicht Freiheitskriege. Das haben andere für uns erledigt. Aber reden können wir. Das sollten wir tun. Und dann den vollen Rechnungsbetrag begleichen. Das Trinkgeld nicht vergessen. Und dann schweigen. Und wieder von vorne anfangen. Geduldig. Und die Brennpunkte und „Specials“ abschaffen. Ach, quatsch doch keine Opern. Wer spricht?

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Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun –
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot –
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.

(Gottfried Benn)

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Und vor dem verhängten Spiegel Grimassen übend, frage ich mich, was ist denn nun ein Reden, was nur ein Quatschen?

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Das dunkle Lied vom verletzten Stolz statt von der Scham kennt keine Gnade

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Ehemaliger Grenzübergang Wartha – Herleshausen / 4. Oktober 2021

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„Der politischen Aussichtslosigkeit kann der Führer der Krimtataren, Refat Tschubarow, nur den Hinweis entgegenhalten, daß sein Volk bis jetzt noch immer alle Schläge überlebt habe. Denn realistisch ist es nicht, daß sich irgendwer auf der Welt für seine kleine Minderheit verwendet, die Ukrainer nicht, die wegen der Krim keinen zweiten Krieg gegen eine Großmacht führen werden, Europa schon gar nicht, das mit Rußland genug andere Konflikte hat, und Amerika … ach, Amerika war mal ein Traum.

Ich besuche Tschubarow in einer unscheinbaren Hinterhauswohnung, Geschäftsstelle eines Volks, wo er mehr melancholisch als empört die Schläge der letzten zweihundert Jahre aufzählt, Vertreibungen, Deportationen, Massenmorde, Verhaftungen, Landraub, Diskriminierungen, falsche Beschuldigungen, früher der Kollaboration, heute des religiösen Extremismus. Gerade hatte sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine und der Rückkehr der Tataren aus der Verbannung eine Zukunft abgezeichnet, eine gesicherte, friedliche und freie Existenz, in der sie die Trümmer ihrer alten Kultur hätten sammeln und neu aufbauen können, da hat die russische Annexion der Krim sie erneut zu Bürgern zweiter Klasse gemacht. Immer habe sein Vater in Samarkand gesagt, fast wie ein Gebet: Wir werden heimkehren, wir werden heimkehren. Er kehrte heim auf die Krim und starb am 13. März 2014, als in den Straßen wieder russische Soldaten marschierten. Seine Mama – der Sechzigjährige benutzt dieses Wort: Mama – lebt noch in der Heimat, nur daß er sie nicht mehr besuchen kann.

„Stalin hat meine Eltern deportiert, Putin mir die Eltern genommen.“

Eine realistische Perspektive, wie die Krim wieder in die Ukraine zurückgeführt werden könnte, vermag Tschubarow nicht aufzuzeigen. Rußland müsse stärker unter Druck gesetzt werden, sagt er beinah verzweifelt, um selbst zu konstatieren, daß der deutsche Außenminister Steinmeier im Gegenteil die Sanktionen aufheben wolle, um Verhandlungen zu führen.

„Du gibst einem Erpresser alles, damit er mit dir in Verhandlungen tritt – worüber willst du dann noch verhandeln?“

Ob ihn der Pessimismus nicht niederdrücke, frage ich. Nein, sagt Tschubarow, nein, es gebe so viele Lösungsmöglichkeiten, man müsse nur in die Geschichte schauen.

„In der Geschichte?“ frage ich. „Das zwanzigste Jahrhundert ist doch voll von Vertreibungen, und kaum eine ist rückgängig gemacht worden. Im Gegenteil: Länder wie Polen, Deutschland, auch die Griechen oder Türken konnten ihren Frieden nur machen, weil sie sich mit den Vertreibungen abgefunden haben.“

„Ja, aber Deutschland hatte noch ein Land. Die deutsche Sprache, die deutsche Kultur war nicht vom Aussterben bedroht. Die Führer der großen Nationenhaben kein Gespür dafür, wie es für Minderheiten ist. Wenn wir verlieren, dann verlieren wir alles. Dann gibt es uns nicht mehr.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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Jeden Morgen trinke ich weiterhin meinen Tee aus einer Tasse, die mir zum Abschied damals in Sowetsk geschenkt wurde. Heute vergaß ich auch den Pin der Gesellschaft für Deutsch – Russische Freundschaft, der seit damals an einem meiner Jacketts heftet, vor dem Betreten der Fußgängerzone zu entfernen. Was ich schrieb vor 4 Jahren? (Eintrag vom 5. September unten) Die Ansage der Delegationsleitung damals: „Auf keinen Fall politische Themen anschneiden!“ Wir waren folgsam. Wir haben uns folgsam betrunken.

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1978 fiel der Stadt Hannover auf, daß der Führer noch Ehrenbürger ihrer Stadt war. Jetzt sind sie richtig schnell unterwegs. Die Stadt Gießen benötigte wiederum knappe 10 Jahre bis sie ihrem Bürger, dem Friedenspolitiker und Pazifist Horst Eberhard Richter diese Würde angedeihen lassen wollte.

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„Du kämpfst?“ frage ich erstaunt, weil ich mir einen wie Pavel, einen feinsinnigen Theatermann mit weicher Stimme, der Körperbau zart, so gar nicht als Krieger vorzustellen vermag.

„Ich habe mich als Reservist gemeldet. Irgendetwas muß man doch tun, wenn man auf dem Maidan war. Auch wenn man das in Kiew nicht merkt – wir haben nun einmal Krieg. Und abgesehen davon, ist die Miliz sehr interessant.“

„Warum?“

„Das sind Leute aus allen Schichten, mit denen hätte ich sonst nie etwas zu tun. Und es ist auch interessant zu erfahren, was eine Waffe mit dir macht. Das meine ich jetzt persönlich, aber das gilt natürlich ebenso fürs Land. Du fühlst dich nicht mehr so verletzlich.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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Und nun sollen alte sowjetische Flugabwehrwaffen aus Beständen der Volksarmee die russische Aggression zumindest stundenweise stoppen. Mehr kann das blanke deutsche Militär wohl nicht tun. Perversionen unserer Geschichte.

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Laß uns das Schälchen erheben,

die Koto anstimmen und

die Mondhelle preisen.

Dann erst fragen nach der morgigen Nacht,

ob es klar wird oder bedeckt,

denn – wer weiß das schon?

(Basho)

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First we take Manhattan, then we take Kiew? Oder: ab wann ist denn nun ein Flüchtling ein guter Flüchtling?

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Grenzlandmuseum Eichsfeld / 14. Juni 2019

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„Abends in Kiew dann die Rückkehr ins eigene Koordinatensystem. Vielleicht weil ich von Eindrücken schon entwöhnt bin – auch die Landschaft ist schließlich seit Vilnius nur eintönig und flach gewesen -, kommt mir das Nachtleben um so greller, anarchischer vor, die Restaurants und Bars bis auf die Bürgersteige gefüllt, die gutgekleideten jungen Menschen, die erkennbar vergnügungssüchtig sind, eine Stadt, die zugleich boomt und zerfällt, hier pittoresk heruntergekommene Altbauten, dort bereits Gentrifizierung, die jedes Leben aus den Gassen vertreibt, die Straßenbahnen noch aus dem kalten Krieg, wo in Minsk alles pikobello war, Schmutz auf den Straßen, der in Weißrußland nirgends lag, die Armut sichtbar und der Reichtum um so protziger ausgestellt. „Die in den SUVs sind ausnahmslos alle kriminell“, murmelt Sashko, wie der Fahrer heißt, aufgewachsen in einer Lemberger Künstlerfamilie, später Taxifahrer und Barmann in New York, heute Revolutionär und glühender Patriot. „Putin versteht nur die Faust“, sagt er, um im nächsten Satz die eigene Regierung zu verfluchen.

An den Gebäuden rings um den Maidan sind hier und dort noch Einschußlöcher zu erkennen, in der Mitte Photos der Märtyrer aufgestellt. Ansonsten ist der riesige Platz mit den sowjetischen Hochhäusern, der in den Nachrichtensendungen einen ganz falschen Eindruck vom historischen Stadtbild vermittelte, längst von der Freizeitgesellschaft zurückerobert worden. Touristen, Jugendliche, Familien mit Kindern, die gleichen Straßenkünstler wie in Krakau oder Barcelona, der ganze Tand, den man früher nur auf der Kirmes fand. Auf einigen Werbetafeln sind Soldaten zu sehen, die im Osten kämpfen. Der Krieg könnte nicht weiter weg sein.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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Beginnt die Freiheit, die wir die unsere nennen – beziehungsweise nennen lassen – eigentlich erst in Kabul oder doch schon in Kiew? Oder gar vor der eigenen Haustür? Im Dannenröder Forst? Sehr viele nehmen leider auf dem Weg von der Ohnmacht zur phantasierten Allmacht eine Abkürzung.

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„Konstantin ist Politikberater, war einmal für Serhij Taruta tätig, der zu den liberaleren Oligarchen gehört, und ist trotz seiner Weltläufigkeit stolzer ukrainischer Nationalist. Dabei hat er selbst keinen Tropfen ukrainisches Blut in den Adern, wie er ironisch vermerkt, wurde 1980 in Donezk geboren, der sowjetisch geprägten Industriestadt im Osten, wo heute die Separatisten herrschen, wuchs ohne Bezug zur ukrainischen Kultur auf, beherrschte die Sprache so gut wie nicht und ging zum Politikstudium nach Moskau. Als die Revolution ausbrach, stellten sich die meisten seiner Bekannten wie selbstverständlich auf die Seite der Regierung, die das Land nach Osten ausrichtete. Konstantin zögerte kurz. Dann flog er nach Kiew und marschierte mit auf dem Maidan. Warum?

„Weil die politischen Ideale meine eigenen waren: Freiheit, Demokratie, Europa.“

„Faschist“, beschimpfte ihn ein Freund, aber umgekehrt zögert Konstantin auch nicht, Putin mit Hitler gleichzusetzen, und führt Paralellen an. Inzwischen lernt er ukrainisch, und seine Kinder wachsen von Anfang an zweisprachig auf. Und was solle mit den vielen anderen Menschen geschehen, deren Eltern oder Großeltern innerhalb der Sowjetunion umgesiedelt worden sind, frage ich. Plötzlich fänden sie sich in einem Staat wieder, mit dem sie überhaupt nichts verbindet. Ja, sagt Konstantin, sicher sei das schwierig. Er verstehe auch seine Familie, die in Donezk geblieben ist: Sie hätten keine sonderlichen Sympathien für die Separatisten, doch seien sie alte Leute, konservativ, nicht willens ihre Heimat aufzugeben.

„Was ist dann also mit den Russen, die in der sowjetischen Zeit in die Ukraine gekommen sind?“ hake ich nach. „Man kann doch diese Leute nicht alle zwingen, die ukrainische Kultur anzunehmen.“

„Warum nicht?“ meint Konstantin: „Mindestens für ihre Kinder müssen sie entscheiden, ob sie Ukrainer oder Russen sein sollen.“

„Und was, wenn sie Russen bleiben wollen?“

„Das wird natürlich ein Problem sein.“

„Was für ein Problem? Werden sie dann vertrieben?“

„Nein. Aber wer unter dem Einfluß der russischen Propaganda steht, wird sich kaum in die Ukraine integrieren können.“

„Dann läuft es doch auf Vertreibung hinaus.“

„Nein. Nein. Aber man kann doch nicht alle Rechte eines Staates genießen und den Staat gleichzeitig ablehnen. Das würde nirgendwo auf der Welt gehen.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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… außer natürlich in Deutschland, denke ich beim Lesen des letzten Satzes. Hier gehört es quasi zum guten Ton in etlichen, auch gut bezahlten Diskursen, lechts wie rinks.

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Da haben wir fünf Jahre lang dauerempört und moraleregiert den Zeigefinger Richtung Washington ausgestreckt, von wo aus Chief „The Deal“ Orangehair die Erhöhung unseres Beitrages zur NATO – Finanzierung auf zwei Prozent einforderte. Tja, jetzt gehen sie – als einzige – ab: die Aktien der Rüstungsindustrie. Besser zu spät als zu früh. Oder? Ich mag nicht so recht ins eigene Koordinatensystem zurückkehren. Falls ich je eines hatte.

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Die Menschenwelt –

Ein Jammertal! Auch für den Mond:

Er verfinstert sich.

(Issa)

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Stell Dir vor 3 Wochen nach Ausbruch erführest Du durch einen Boten vom Ausbruch eines weiteren Krieges!

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Gedenkstätte „Point Alpha“ / 11. Oktober 2021

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„Aber was meinst du denn selbst?“ frage ich Andrej: „Wäre es gut, wenn Weißrußland zu Europa gehörte? Ich meine, wenn der Beitritt zur Europäischen Union eine Perspektive wäre?“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortet Andrej. „Das Dorf wäre nicht vorbereitet. Das würde nicht langsam sterben, sondern sofort hinweggefegt. Weißt du, wir befinden uns an der Kreuzung unterschiedlicher Welten, das macht uns besonders. Der Sinn unserer Kultur ist, daß wir Westen und Osten sind. Wenn wir uns nur dem Westen zuwendeten, würden wir unsere Kultur zerstören. Ich stelle mir immer vor, wir hätten nach beiden Seiten einen Zaun, nach Westen und nach Osten. Aber einen ganz niedrigen Zaun, über den man leicht steigen kann.“

Ich sagte Andrej, daß es Menschen wie ihn brauche, die gewissermaßen übersetzen. Ohne ihn hätte ich, hätten nicht mal meine Begleiter aus Minsk einen Zugang zu dieser dörflichen Welt am Rande Europas gefunden. Selbst mit Dolmetscher hätte ich nicht einfach mit den Menschen sprechen können.

„Ja, aber man muß länger bleiben, wenn man verstehen will“, gibt er zu bedenken.

„Das stimmt“, antworte. „Aber manches versteht man auch erst, wenn man reist, nicht wenn man bleibt.“

„Kann sein“, sagt Andrej Horwarth, der wegen seiner Ziege immer nur für einen Tag verreisen kann.

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / LESEN!!!)

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Und wenn Putin nichts anderes ist als der böse Geist und die Fratze der Globalisierung? Seit zwei Jahren verabschieden wir uns Tag für Tag von vermeintlichen Gewißheiten. Muß man erstmal fressen. Meist zu spät. Aber dafür in einem Höllentempo.

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Dankbar dafür in beheizten Räumen solche Gedanken denken zu können und unbehelligt – außer von den Zumutungen eigener Fehleinschätzungen und / oder naiver Wunschgebilde – niederschreiben zu dürfen.

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Wir haben ihn beschrieben,

dann zweigeteilt den Fächer

schmerzlichen Gedenkens …

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(Basho)

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In the Bordertowns of Despair / Eight

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Bob Dylan / Hunan Province

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8

Jetzt gehe ich hinaus, sagt sie. Und wieder steht sie vor dem Spiegel ihres Badezimmers. Da ist was, pflegt sie zu sagen, da ist was. Da neben der Nase, da auf der Stirn. Eine – herrliches Wort – Hautunreinheit. Wieder und wieder kreisen ihre Fingernägel um einen kleinen Fleck, bearbeiten, kneten, drücken, schaben. Es gibt mich nicht. Es gibt nur das, was ich Spiegel sehe. Ich kann mich nicht fassen. Ich bin ein Loch. Ich bin eine These. Ich ich ich ich ich ich ich ich ich: nichts. Alles. Ich fasse meine Haut, der kleine Schmerz macht mich sehen, aber ich sehe nichts, keine Zeit, Stillstand. Milch. Butter. Salzstangen. Schokolade mit Mandeln. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Da muss doch noch was sein unter meiner Haut, ich gehe unter meine Haut, es blutet. Ich blute. Blut. Was ist hinter dem Blut. Türe um Türe stoß ich auf und finde nichts, nichts. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Das hatte er gesagt am Telefon. Gemüse. Auberginen. Ich habe wieder ein Loch in meine Haut gemacht. Keiner darf eindringen in mich, er wird nichts finden und gehen müssen. Abdeckstift, wo ist mein Abdeckstift. Ich bin mein eigener Verputzer. Es ist wie Weihnachten, damals, ich habe das Paket aufgerissen, ich muss es wieder verpacken. Noch eine Kordel. Keiner darf etwas sehen, nicht mal ich. Fischfilets und Abdeckstifte. Nico singt. „I`ll be your mirror.“ Jetzt ist es, jetzt ist es gut. Wie rieche ich, kann ich mich riechen. Eine Paste tilgt meinen Geruch, kann ich mich riechen, jetzt bin ich null und trage auf noch eine Creme. Jetzt rieche ich wieder. Wie. Wie er. Wie was. Jetzt gehe ich einkaufen. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Tiefgefrorene Alaskafischfilets. Ich bin ein Fischfilet. Aber ein Fischfilet mit einem Plan. Kalt und ausgeliefert. Sie greift eine Einkaufstasche. Jetzt geht sie raus. Hinaus. Wer geht da raus. Geht doch alles zum Teufel.

Auf dem freien Feld steht Woyzeck und hört Stimmen. Still ist alles, so still, als sei sie tot die Welt. Zwei Hasen fraßen ab das grüne, grüne Gras. Und es geht etwas. Über uns, unter uns, neben uns. Woher kommen die Momente, wenn sich in dir plötzlich alle von den Alltäglichkeiten zugenagelten Türen öffnen und eine gräßliche Klarheit die Eingeweide streift. Sara, Sara, wie er geht, wie er steht. Der Löw. Helmer jedoch kommt nach Hause und pfeift sein Vögelchen zu sich. Das Wunder wird niemals geschehen. Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt mich erstechen. Marie, sie lacht. Sie dreht sich, ihr Rock flattert. Ach, was Welt. Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.

Der Andere hat eine Hoffnung. Was ist, wenn seine Freundin auf einmal auf der Toilette bliebe. Einfach so. Für immer. Wenn die Klospülung sie mitnimmt und hinausspült in ein Land, wo lauter trostspendende Hände von den Bäumen baumeln, sie nehmen, aufnehmen, übernehmen und er … ach. Die Klospülung rauscht und vertraute Finger fahren über und in sein Gesicht. Er murrt. Keine Premierenerektion. Zigaretten. Tränen. Abreisedrohung. Ach, Du, bleib halt. Wir werden immer mutiger.

Da ist ein Haus. Die Sonne lacht. Da ist Papa. Papa kommt von der Arbeit. Mama steht mit den Kindern am Gartentor und wartet auf Papa. Die Kleine rennt ihm entgegen. Papa hebt sie hoch und drückt ihr einen Kuss auf die Nase. Sie lacht. Den beiden Jungs streicht er über den Kopf, bevor er Mama einen Kuss auf die Wange drückt. Mama sagt, es gibt Koteletts mit Bratkartoffeln. Papa schmeißt seine Tasche auf die Eckbank in der Küche und sagt: Aha mein Lieblingsgericht. Die Sonne geht unter, alle lachen. Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne …  Guten Appetit … Gute Nacht Johnboy … Testbild. Auf dem Balkon sitzt Papa und raucht. Er möchte seine Kinder töten. Seine Frau hat mit einem Buckligen geschlafen.  (Fragment, gekürzt)

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Seven

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Bob Dylan / Opium

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7

Sie bekommt Besuch, ein alter Bekannter, auf den Sonnenstrahlen ist es hinab gerutscht, das Vieh, unerwartet, brutal, rasend und es saß vor ihr achtbeinig, grüngepelzt, grinsend, sich mit seiner langen knallroten Zunge die schleimigen Nasenlöcher ausleckend. Es hatte viele Gesichter. Vaters Gesicht, C.`s Gesicht, Mutters Gesicht, ihr eigenes Gesicht, das Gesicht eines Intendanten, eines Finanzbeamten, eines Schuhverkäufers, einer unfreundlichen Kassiererin im Supermarkt und seit heute noch ein weiteres Gesicht voller Erwartungen, Forderungen, Hoffnungen und das traf sie ins Mark. Das Gesicht des Anderen. In den letzten Tagen hatte sie es oft vergessen können, das Vieh, aber ihr unfehlbarer Instinkt sagte ihr, es ist da, zuschnappender, fordernder, wütender, freundlicher und tätiger denn je. Sie mußte sich der Anfechtungen erwehren und hatte sich ergangen in die Gleichförmigkeiten eines Alltags, schleppte samstags Blumen in die Wohnung, fand sich mit einem Einkaufskorb durch die neue Stadt gehen und belustigt sagte sie zu ihm am Telefon : „Wie meine Mutter.“ Das Tier spuckte sich in seine kleinen miesen Pfoten und pisste in ihren Kaffee. Ihr war schlecht. „Das wird mein größter Auftritt.“ Und sie war nicht gut vorbereitet. Zwar hatte sie viel schon in die Wege geleitet, Freundlichkeiten hier, Verweigerungen dort, aber nun begriff sie: wenn man etwas tut, bewegt sich nicht nur der eigene Arsch. In diesem Haus muss man samstags die Treppe wischen. Gott sei Dank. Nein, sie schüttet den Eimer nicht um, sie nicht, sie nicht. Die alten Damen, ein Stockwerk tiefer sehen mit Freude eine schöne und „eifrige“ junge Frau durchs Treppenhaus huschen. Unsere Schauspielerin, ach. Ihre Auge glänze noch.

„Weg. Weg. Weg. Meine Gattin weint. Ich halte sie umfasst. Es ist ein trübes Frühjahr. Unten treiben müde die Frachtschiffe vorbei.  An Bord eines der Schiffe ein grüner Golf. Quer steht er. Wäscheleinen. Niederländische Unterwäsche flattert im Fahrtwind. Der Rhein riecht verfault. Das ist nicht mehr das Wasser, welches meine Heimatstadt verlassen hat. Am Rheinkilometer NULL, da kannst du schwimmen, gegenüber der Wohnung meiner Mutter. Hier erinnern große Steintafeln daran wie weit das Haus der Mutter entfernt. Meine Mutter wohnt am Rheinkilometer NULL. Ich lebe diesen Fluß hoch und runter. Meine Gattin weint. Ich halte sie umfasst. Ein Stück Fleisch. Ich umfasse eine Erinnerung. Irgendwo fliegt die Löwenmähne durch den Tag, dieser Geruch ist in mir. Ich umfasse meine Gattin. Ihre riesigen Augen versuchen mich aufzusaugen, die Bitte, die eine große Bitte. Warum stoße ich sie eigentlich nicht diesen Felsen hinab, setze mir eine blonde Perücke auf, bleibe sitzen und warte darauf, daß vorbeiziehende Japaner mich fotographieren? Ich spreche, gelassen, traurig, Warteworte, Abwiegelworte, Streichelworte, Abwieglerworte. Anstatt meine Hände um ihre Gurgel zu legen. Weil sie mich liebt. Ihren Hals zu zerquetschen und ihr in die Rehdackelaugen zu schreien, du bist nicht, die die ich liebe, du bist mir eine entsetzliche Last, weil du funktionierst, wie ich will, weil du machst, daß es mir gut geht, löse dich auf, befreie mich von dir, mach es mir einfach, mach mich leicht. Haha, ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Der Zug gleitet an der Loreley vorüber. Erschrocken, aber auch angezogen von seinen Abgründen klappt er die Kladde zu. Der Fußballprofi steht auf und lächelt. „Du denkst zu laut, Schauspieler!“, sagt er. Er bestellt ein letztes Bier. Der Lautsprecher meldet sich. „Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten, erreichen wir die neue Stadt. Dort haben sie Anschluss mit der S – Bahn um sowieso Uhr in eine der älteren Städte aus Gleis 2. Auf Grund umfangreicher Bauarbeiten kann es zu Gleisänderungen kommen. Bitte beachten sie die örtlichen Lautsprecherdurchsagen.“

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Zeitenwende (Mitfahrgelegenheit)

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? Ein inzwischen graumelierter 007, aber immer noch unbeleckt von gegenderten Zweifeln, der mit seinem – Zugeständnis an die Reise zurück in die Zukunft – hybriden Aston Martin durch die französischen Seealpen brettert auf der Jagd nach dem Großen Bösewicht. Er ist sich sicher seinen Gegenspieler (Feind?) vor sich herzujagen. Nur eine Frage der Zeit. Plötzlich kommt ihm dieser entgegen. Volles Tempo. Ausweichen wird der nicht. Natürlich ist die Straße zu eng für zwei, der Abgrund grüßt und die Kurven sind haarnadelig. Der Gegenspieler (alter Freund?) also schießt vorbei. Knapp ist das alles. Unser Agent, eben noch eingenickt, plötzlich hellwach. Powerslide. Handbremse anziehen. Gleichzeitig Vollgas. Lenkrad festhalten. 180 Grad. Zack. Richtungswechsel. Hinterher dem Hund. Wohin? Zurück? Unten im Hafen von Monte Carlo schlägt die Yacht noch gegen die Kaimauer, wo wir gestern gerne stets als Freunde? Wieviel Zeit nochmal auf der Rückseite der Goldenen Taschenuhr? War mal ein Geschenk!

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? Bis gestern schmurgelte das Omelett leise vor sich hin. Reduzierte Hitze in der Pfanne. Der Koch aber stand vor der Küchentüre, rauchte, telefonierte und kratzte sich gelegentlich am Genital. Plötzlich, ach plötzlich, aber Rauchschwaden aus der Küche. Der Koch stürzt zurück. Beschimpft den Kellner. Dieser habe wieder nicht aufgepasst. Verlernt hat man es nicht. Elegant – Salto rückwärts mit eingedrehter Schraube – fliegt der Pfannkuchen durch die Luft und landet satt ploppend in der überhitzten Pfanne. Das Rabenschwarze jetzt nach oben schauend. Rechtzeitig gewendet? Ist der Pfannkuchen noch genießbar? Egal. Verkauft und bezahlt war er schon länger.

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? Gundermann darf wieder baggern bis ans Ende aller Tagebauten? Freiburg hält in Sachen AKW Fessenheim einfach nachhaltig die Schnauze? Zusätzliche Panzerspuren auf unseren Autobahnen? Mitfahrgelegenheiten schaffen für Einsatzwaffen?

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Die Bettdecken wende beizeiten. Sprach der Narr zum König. Man liegt zu schnell im eigenen Duft.

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? In Kiew hat ein Heldenverleih aufgemacht. Wir bedienen uns. Wie hoch könnte die Zeche sein, die wir bezahlen mögen, wenn die Verbindungen gekappt sind und wir den Krieg nicht mehr im TV betrachten können? Hinter den sieben Bergen? Sondern ihn hören werden? Das Comeback des Molotowcocktails in neuen Zusammenhängen. Zeitenwende? Gute Leichen, schlechte Leichen?

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In the Bordertowns of Despair / Six

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Bob Dylan / Woman in Red Lion Pub

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6

Löwenmähne dachte er, Löwenmähne. Ihre Löwenmähne, eine gewaltiger wirrer lockender Haarwasserfall, den sie in seiner Gegenwart meistens streng zusammengefasst hatte, doch jeder Regisseur, jede Kostümbildnerin bat sie und meist mit Erfolg, ihr Haar zu öffnen und über die Bühne direkt in die Herzen und Hosen der Männer fliegen zu lassen. Sie liebt es hart, knapp und abgehackt zu spielen, jedes Wort behauen, ziseliert, Kontrolle bis in den kleinsten Finger, nur eines flog und wogte wild, jenseits aller Kontrolle: die Löwenmähne. An der Löwenmähne über die Bühne geschleift schrie das Tier Marie und der gelbe Schweiß des Woyzeck Franz benetzte ihre Haut. Haare, lachte er, da will sich einer die Haare abschneiden, um seine Unschuld zu beweisen. Der Fußballer lachte mit und meinte er lese die Spielberichte gar nicht mehr. Oh doch, er liebte es Kritiken zu lesen, sie selber schon mehrfach vorformuliert habend, mit unmäßiger Heraushebung der eigenen Leistung und dann dieser kleine allmonatliche Schock, wenn da so oft steht nichts, einfach nichts. Der Fotograf plusterte sich auf und sprach von den Großen vor seiner Linse. Der Kellner brachte Weißbier um Weißbier und zum ersten Mal verpasste er die Loreley, denn sie fuhren auf ihrer Seite. Es war ihm zum grässlichen Ritual geworden. Vor etwas mehr als drei Jahren, als er sich für sie entschied, nach langen Monaten des Werbens, Wartens, Gehens, Kommens, war er noch ein verheirateter Mann gewesen. Wenige Tage vor dem Geburtstag seiner Gattin hatte er die legendären Nägel mit Kopfen eingeschlagen, die, die er wollte, hatte ein lautes „Ich will dich doch auch!“ in den verräterischen nachmittäglichen Kissenkampf geschrien, er hat die Nacht durchgetrunken und sich morgens seiner Gattin offenbart. Sein Geburtstagsgeschenk hätte sein sollen: ein Rheinfahrt. Sie taten dies auch, nun verziert mit dem Bändel der Grausamkeit. Und so standen sie auf der Loreley, die Gattin weinte und weinte und weinte aus ihren riesengroßen waidwunden Augen und ihm war kein Umweg zu schade, kein Trick zu billig, um nicht sagen zu müssen: ich liebe: eine andere: nicht: dich. Und jedes Mal auf der Fahrt von seiner in ihre Stadt riss irgendetwas sein Auge aus der Zeitung, dem Text oder der Bierbüchse und er sah hinauf zum Felsen und trauerte, triumphierte oder es war ihm gleich. Es war wie ein kleines Wettspiel mit seinen Instinkten. Diese gewannen immer. Er war auf dem Weg zu einem neuen Denkmal. Ich weiß nicht was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin.

Der Andere war einer von uns. Warten sei die wahre Zeit, sagen wir, lässig die Zigarette in der Hand, lass dir Zeit, siegesgewiß und warm, es kommt wie es kommen muss, das Herz geht dahin, wo es muss und schon greifen wir das Telefon und schmeißen es ins angebetete Glashaus. Jedes kleine Hihi, ich denk an dich, ist eine Nagel. Unsere Wände, sie sind drapiert mit angenagelten Hoffnungen. Wir nageln sie. Wir nehmen sie. Wir belagern. Wir bleiben Ritter. Wir rennen gegen die Wände. Unser Lieblingswort ist der Schrei. Das aufgerissene getriebene himmelsmächtige Maul. Möge Gott der Herr Schwänze hineinstopfen. Ich werde sie malen, ich habe sie geformt, sie ist hart, klar, gnadenlos. Sie ist schön. Das sprach der Andere vor sich hin. Er drückt ihr sein Mantra ins Ohr. Auch er riecht, hier steht ein Burgfräulein auf den Zinnen. Die Luft sirrte von den Handygeschossen, diesen imaginären Sicherungsseilen virtueller Bergbesteiger in einer trostlos flachen Welt. Seine Form war die knappe, der Schmetterball. Er ahnte nicht welch offenes Tor er berannte. Manche wünschen die Uhren liefen rückwärts, er trat dem Stundenzeiger ins Kreuz. Sein Mädchen war pinkeln, das reicht ihm.

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(Mainz / Oktober 2000)

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