Meine Sicht auf die Welt ist die Sicht auf eine Bühne. Spätestens seit ich als Regisseur arbeite. Arbeitete. Nächste Woche habe ich meinen Termin bei der Rentenversicherung. Es wird ernst. Und es schmerzt. Das ist hier aber nicht ein Thema. Obwohl?
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Jede berufliche Deformation hat Folgen. Die Sicht auf die Bühne als Regisseur fordert von mir den Blick der Zuschauer, der meisten Zuschauer, also der Besserwisser, der Langsameren, der Verwirrten und all der eigentlich Uninteressierten. Für die muß ich hingucken. Wie wirkt das? Wie wirkt was? Also schaue ich auf die Welt, die stets aus tausend Wunden vor sich hin blutet und ich mir pflasterlos hilflos, wie viele, das Maul zerreiße zu diesem Drama und kann doch das Auge nicht abwenden.
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In unserem Land ist in dem aktuellen Drama – Nein liebe Zuschauer! Es ist nicht das erste und einzige jener Dramen, auch wenn der laute Flügelschlag dieser Tage es vermuten lässt! – besetzt in einer sehr großen Rolle Olaf Scholz. Fest hält er sein Textbuch in der Hand und vermeidet es in die Kamera zu blicken. Seine Schultern hängen. Er versucht seiner Stimme Halt und Stütze zu verleihen. Das Publikum wird unruhig. Was für eine Memme! Hat der auch Emotionen? Umbesetzen?
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Zwischenbemerkung 1: Wahrscheinlich einer der Gründe, warum Peter Zadek das Licht im Zuschauerraum während seiner Inszenierungen grell und hell aufdrehte.
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Hinter Olaf Scholz auf dem Bildschirm des Bundestags der Präsident der Ukraine, trainiert in Sachen Bühne, angetan mit einem Kostüm, welches den deutschen Durchschnittsmann aka die MEMME erblassen lässt vor (hormonellem?) Neid und er bläst uns bisherigen Weltmeistern in Sachen MORAL in dieser Causa dermaßen den Marsch, daß sich sogar Meister Kant in Kaliningrad in seinem Grabe umdreht. Mehr Waffen, weniger Tote?
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Zwischenbemerkung 2: Im September 2017 war ich in Kaliningrad zu Gast. Wir besuchten das Grab von Kant. Unsere Übersetzerin bemerkte: „Warum hat Euer Hitler nicht rechtzeitig kapituliert? Dann gäbe es Königsberg noch!“ Darf man an Selenskyj überhaupt noch so eine Frage weiterleiten?
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Ich bin in Sachen Krieg und Leichen bekennender Laie. Ich hatte bei der Bundeswehr ein hervorragendes Schießbuch. Das war es dann. Ich weiß nicht ob Olaf Scholz „gedient“ hat. Ist mir auch wurscht. Er ging nach der Generalabrechnung (Generäle rechnen? Womit? Mit Leichen?) aus Kiew im Bundestag zur Tagesordnung über. Geburtstagswünsche und dergleichen. Friedrich Merz – auch im nicht mehr wehrfähigen Alter – schäumte. Als Manndarsteller. (Zynischer Zwischenruf aus dem dritten Rang ohne Wurf eines Bierdeckels … Sorry! … Bierbechers: „Die Memme hat sich sogar von der Merkel abservieren lassen!“) Wie hätte sich Angela Merkel verhalten? Als Frau und Leitungspersonin zwischen Memmen und selbstermächtigten Männern. Hilflose Frage. Aber sollte doch noch möglich bleiben.
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Zwischenbemerkung 3: Lief mir eben ein alter Kollege über den Weg. Unsere letzte Arbeit war, nennen wir es so, traurig beschattet. Bei unerwarteten Begegnungen vereisen meine sonst geschwätzigen Lippen. Er schleuderte mir – im muskelbetonten Hemd – ein fröhliches: „Christian, ich wünsche Dir einen schönen Frühling!“ entgegen. Spielarten der Hilflosigkeit. Hüben wie drüben.
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Erinnere mich an die ein oder andere Mails aus Zeiten des Wahlkampfes letzten Jahr. Alter weißer Mann an alten weißen Mann: „Also die Baerbock. Eine Frau mit so einer Stimme. Wähle ich nicht. Kann ich nicht!“ Antwort: „Mit!“ Natürlich ist der Diskurs hier unzulässig verkürzt und banalisiert. Aber: Hand aufs Herz?
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Nachtrag: Etliche alte Männer sahen sich natürlich in den letzten Jahren stets auf der richtigen Seite der Geschichte. Die Memmen haben halt die Revolution verkackt. Nein. So würde das keiner ausdrücken wollen. Hilfslosigkeit halt. Die Gegenseite wedelte auch mit ihren Argumenten rum. Der Markt richtet das schon, ihr Karrierememmen! Und dann wird auch noch Boris Becker eventuell verurteilt. War der nicht mal ein Held?
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Nach der Bühne trifft man sich in der Kantine. Nicht weniger hilflos. Aber dafür umso lauter. Wer zahlt den Deckel, der noch am Tresen rumliegt?
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Hatte ich jemals eine Chance?
Das fragte er sie
Bei jener seltsam zufällig
Letzten Begegnung in der S – Bahn
Sie schüttelte leise den Kopf
Ihre Augen vor Zärtlichkeit überquellend
Verstummte dann
Hätte sie nicht nicken müssen?
(Hamburg / 3. Januar 2022)
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Vielleicht können wir ab und zu halt hilflos versuchen zu helfen. Danke!
Vorgestern schlurfte ich durch diese Stadt hier vor Ort und sah in einem Schaukasten, daß man plant eine alte Inszenierung von mir wieder zum Leben zu erwecken. Da ich mit dieser Institution – sprich der Leitung – nichts mehr zu tun habe und auch will, wurde ich nicht gefragt in Sachen Wiederaufnahme. In Ordnung. Wobei: selbst in Zeiten des Krieges gelten alte Absprachen? Die Teilnehmenden machen das jetzt mit sich selber aus.
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Gestern – einer der zentral Teilnehmenden hatte eben – Huch! – die Straßenseite gewechselt, professionell eine Voice – Mail darstellend und an der nächsten Ecke tat ich es ihm gleich und vermied dieses oder jenes. Zwei Ecken weiter traf ich einen weiteren alten Mitstreiter. Nachdem wir die Krankheits – und Genesungsgeschichte meines linken Armes abgehandelt hatten, stießen wir auf den Krieg. „Also, wenn man sich vorstellt jetzt in Russland oder Weißrussland leben zu müssen und nichts sagen zu dürfen! Das ist doch brutal!“ Ich trippelte etwas vor mich hin. Mir fiel kein Termin ein, der mich hätte von dannen ziehen lassen. Also sagte ich: „Na ja, das mit dem sich wehren ist ja immer so eine Sache. Hier kommen wir ja nicht gleich in den Knast!“ Dann wurde zurückgetrippelt. „Du, ich muß!“
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Heute holte ich ein Büchlein eines guten Freundes – freue mich sehr, daß wir wieder in Kontakt sind – aus dem Briefkasten. Ich setzte mich ins Café und las: „Er hat viele Freunde, die ihre Zeit damit vertun, auf das wundersame Ereignis zu warten, das sie erlöst, das aus ihrem Leben, das sie als triste Bleistiftskizze wahrnehmen, ein farbenprächtiges Ölgemälde macht. Freunde, die über diesem Warten blind geworden sind für die glücklichen Augenblicke. Außerdem muß man das Glück aushalten können. Viele seiner Freunde tun alles, es zu zerstören, überzeugt davon die Erfüllung könnte schlimmer sein als das Scheitern, getrieben von der Gewissheit, daß nichts der Hölle ähnlicher ist als das Paradies.“
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Eben eilte ich nach Hause. Ich hatte vergessen, daß die Wäsche in der Waschmaschine vor sich hin suppt. Da die Sonne scheint – viel zu verbissen für diese Jahreszeit … äh, siehe nächster Abschnitt – falte ich den Wäscheständer auf den Hinterhof auseinander. Ich komme ins Gespräch mit unserem russischen Nachbarn, der das Gespräch sucht. Ist er Russe? Ein Elternteil aus der Ukraine, das andere aus Kernrussland, aufgewachsen ist er in Kasachstan. Damals noch Sowjetrepublik. Die Gattin Tochter einer Deutschen und eines Russen. Die Tochter hier aufgewachsen. Vielversprechendes Sporttalent. Ist sie jetzt Russin? Spielberechtigt? Sein Smartphone vibriert im Fünf – Minutentakt. Er arbeitet in Frankfurt. In einer Bank. Er muß. „Wir werden weiter reden!“ Und geht. Bis bald!
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Dann biegt um die Ecke die schwäbische Psychologin aus dem Nachbarhaus. „Hallo, Chrischtjan! Etz wirds Sommer!“ „Deshalb hänge ich ja die Wäsche hier auf!“ „Und nächschte Woche wird’s aber wieder kalt!“ „Gott sei Dank. Hoffentlich regnet es den ganzen April!“ „Dess find i aber itt so gut!“ Germania der blinde Glückskeks.
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Jetzt sitzt ich vor dem Bildschirm und angeregt durch das Buch meines Freundes H. höre ich, während ich das hier zusammentippe, Musik die mich zufrieden macht. Auch mit dem heutigen Tag. Glück kann dann morgen. Oder später mal. „Bitte schööön!“
„Schaaatz! Hatten wir mal dieses Problem? Noch oder gerne wieder? Beim Blick aus dem Fenster sehen wir unseren Liegestuhl belegt. Englische Handtücher. Nein. Es waren doch die Holländer. Es ist Fünf Uhr Fünfundfünfzig. Sehr früh. Also beim Blick aus dem Fenster. So nicht. Nein. So nicht. Ich war nur mal vorsorglich wach. Man kennt sie ja. Die Engländer. Die Holländer desgleichen. Verstopfen unsere Autobahnen. So war es doch. Schon immer. Doch. Genau. In den gemütlichen Tagen. Warum sagte mir keiner, daß die Ferienanlage vor Jahren von Roman Abramowitsch gekauft wurde? Ich habe da ja auch grundsätzlich nichts dagegen. Mein Junior steht auf Kai Havertz. Und ich finde immer noch, daß man Thomas Tuchel nicht nach Paris hätte ziehen lassen sollen. Ach so, das waren Scheichs? Man blickt ja auch gar nicht mehr durch. Jetzt sehe ich jedenfalls keine Liegestühle mehr vor dem Fenster. Komisch. Schaaatz, wo ist denn der ALDI – Prospekt für nächste Woche? Es gibt da doch preiswerte Liegestühle im Angebot. Wetterfest und so. Muß man sich mal vorstellen. Handtuchkrieg hieß das früher. Schon witzig unsere Welt. Schaaatz! Ich bestell mal die Liegestühle! Okay? Was? Die werden in der Ukraine hergestellt?“
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„Der Turm stürzt ein? Nachrüstung und Doppelbeschluß? Was soll der ganze NATO – Stuß? Was soll das ganze Apokalyptikergejammer? Das sag ich. Immer schon. Wir haben doch gewonnen. Der Iwan hat den Schwanz eingezogen. Wandel durch Handel. Sagte ich doch schon immer. Die haben wir verwandelt. Und in die Vergangenheit gehandelt. Nimm dem modernen Iwan – ok, der in Moskau halt – seinen BIG MAC weg und er kotzt. Der Rest soll halt seinen Wodka saufen. Und Borscht zu kochen dauert mir eh zu lange. Wo war ich stehen geblieben? Ok. Scheißwitz. Aber die Mäuse aus Moskau und Kiew? Das sind halt noch Frauen. Tschulligung! Wir sehen uns auf Zypern. Hey. Leute. Da scheint die Sonne. Da iss warm. Da schmecken die Drinks. Steckt Euch Eure Weltuntergangsversionen irgendwo …? Wohin nochmal? Rein halt! Wohin müßt ihr doch selbst wissen. Die Welt iss halt so! Hart wie meine Morgenlatte! Entschuldigung! Ich muß da mal ran. Nee, nicht an die Maus. Ans Telefon. Was? Die Ferienanlage stürzt ein?“
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„Hallo? Klar. Der Mann ist böse. Nicht der Mann an sich. Aber der Jabba The Hutt aus dem Kreml. Echt. Das ist das Böse. Also der. Wieso ich seine Telefonnummer noch? Hey Alter, komm mir nicht blöd. Du kannst mir gerne den Preisnachlaß für Deine Scheißheizung, den ich in den letzten zwanzig Jahren für Dich rausgehandelt habe, auf mein gesperrtes Konto überweisen. Ok. Lösch ich jetzt die Nummer. Weil mit dem Bösen an sich hab ich nichts zu tun. Wenn ich bescheiß, dann korrekt. Alles mit Verträgen. Ich bezahle meine Rechtsanwälte. Tschulligung. Hallo! Schaaatz, wenn Du die Hände faltest, mußt du auch die Augen schließen. Kommt besser rüber. Wo waren wir stehen … Nee … von mir nicht. Dieser Witz. Der Gute sein ist gar nicht so einfach. Den Bösen züchten muß man erstmal. So als Gegenthese. Macht echt Arbeit. Und das Ergebnis ist auch nicht in Stein gemeiselt. Die einen sagen so. Die Anderen. Na ja! Ich habe das doch auch schon immer gewußt. Der Mann ist böse. Und? Zeig mir doch mal Deine Kontoauszüge! Eben! Ich kaufe Dir nicht nur die Handtücher, sondern die gesamte Ferienanlage. Und reservier mir einen Liegestuhl. Tschüssi!“
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Komm Herr Jesus
Sei unser Gast
Und segne
Was Du uns
(Man räuspert sich da oben am Kreuz und spricht: “ Don Camillo! Das kannst Du besser!“)
Tschulligung!
Herr, manchmal bin ich unaufmerksam!
(Noch ein Einwand: „Du meinst ein Mensch, mein Lieber! Gelle!“)
Am Sonntag telefonierte ich mit einem meiner ältesten Freunde. Ich wollte ihm mitteilen, daß ich seit etwas mehr als einer Woche wieder beidhändig bin und sogar schon – Gruß gen HH mit Dank – Gitarren sinnstiftend anfassen kann. „Dann kannst Du ja jetzt Putin erwürgen!“ Seine Antwort, unser gemeinsamer Humor. Ich dachte an meinen Deutschlehrer, den gescheiten Herrn L. und wie er uns dringend davon abriet Staufenbergers und Weizenäcker als Kohorten des tatsächlichen Widerstandes zu begreifen. „Meine Damen und Herren, diese Herren erheben sich gerne anstelle des Kalifen oder wenn die Messe gelesen!“ (obiges aus der Erinnerung zitiert!) „Und beschäftigen Sie sich mit Georg Elser!“ Und dann lasen wir den Tell und ich schnitzte mir eine Armbrust. Ein Jahr später erwählte ich mir den ausgerufenen „Freiheitskämpfer“ Mao Tse Tung (so geschrieben als Peking noch nicht grammatisch einfühlsam gesprochen wurde) als Vorbild. Traurig, aber wahr. Wenn einer endlich den kleinen dicken Vixer P. abserviert, ist es wohl einer aus dem inneren Zirkel. Begrabe Deine romantischen Anfälle an der Krümmung der Gasleitung. Und: Freunde des unreflektierten Gekickes! Lieber Franz und Lichtgestalt! Freuen wir uns auf Katar im Winter! Zu Gast bei Freunden!
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Ach was ein vorsichtiges und vorsorgliches Land, in dem ich lebe. Da gehe ich als 65-Jähriger in die Apotheke und will mir kaufen die etwa hunderttausendste Packung Schmerztabletten meines Lebens. Nach all den ungezählten Katern, Erkältungen, Rückenschmerzen. Die junge PTA: „Sie wissen, wie man mit diesem Medikament umgeht?“ Die grauen Falten unter meinen müden Augen bemühen sich nicht zu zucken und meine Lippen zerbeißen eine Unflätigkeit. Mit Schwung rollt heran das Gefährt des Gefährten der Fürsorglichen. Ab nach Hause in die Vorstädte. „Gib Gas! Hab Spaß! Hier geht noch 180 km / h!“ Noch ein halbes Jahr bis zum nächsten Pulli. The Heat is on. Und dann schaun mer mal. Weiter.
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Ihr Vater habe immer gesagt, wenn man freundlich sei zu den Menschen, seien diese auch freundlich zu Dir. Sie grinste mich an. Das sei doch so. Ich nickte, weil ich sie mochte. Warum, das wagte ich nicht zu sagen, haben wir vergessen uns zu wehren und beten Tag und Nacht – wahrscheinlich noch nicht mal dies, wir setzen es einfach voraus -, daß der Krug in unseren Fingern zerbricht, ohne uns zu schneiden? Eine Woche Leid ertragen und dann ist aber auch gut? Ich habe doch gespendet. Nein. Die Ruh‘ ist hin, wenn sie hin ist.
Welch fürchterliche Enttäuschung! Ich hatte mich streng chronologisch und der fürchterlichen Versuchung standhaltend vorzublättern – jeder wußte und erzählte dem jungen und aufgeregten Buchstabenfresser, daß der edle Häuptling der Apachen im dritten Teil der Geschichte in die Ewigen Jagdgründe einziehen mußte – bis an die Stelle gelesen, wo es geschah. Das Wissen und die bange Erwartung, jedoch auch eine seltsame Gier darauf vom angekündigten Tod endlich zu lesen und zu erfahren, ach, zu erleiden, was dies mit der solidarischen Seele des Buben anstellen sollte, wühlte ich mich, mehrmals zurückblätternd, durch die Seiten und verfluchte unter Tränen den tödlichen Pfeil eines Oglalas, quasi einem Schalker unter den Rothäuten und schwor Rache, Rache für den, der vor meinem Leseauge gegangen war. Hingestreckt lag er, dreckverschmiert, mit gebrochenen Knochen und die Siedler, zu deren Rettung er beigetragen hatte, sangen seiner Leiche ein Ave Maria. Warum der Apache denn Christ sein wollte, nun begriffen habe ich es nicht, aber geweint trotzdem. Obwohl er mir mehrfach angekündigt war dieser Tod, auch von des Vaters dräuender Stimme („Da mach Dich mal auf was gefasst!“), es traf mich wie ein unerwarteter Hieb. Später sollte ich solchen süßbitteren Schmerz nurmehr schmecken müssen, wenn ein geliebtes Wesen sich davon machte. So eine Art von prägender Einstiegserfahrung in Sachen Abschiede.
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Schnell lesen mußte ich den langen Rest des Buches – es zog sich doch recht mürbe dahin nach dem Tod des Häuptlings – und die Wangen mußten ja ebenso trocknen, hingen doch schon in den Schaukästen meiner Geburtsstadt Plakate, welche die Verfilmung des dritten Teils ankündigten. Und dann diese Enttäuschung! Da oben auf der Leinwand. Mit unzerzauster Perücke, im reinen Kostüm, das dezent eingeblutet, blickt der mir nicht unsympathische Franzose und Darsteller in die Ferne, der Brustkorb hob und senkte sich theatralisch den Ewigen Jagdgründen entgegen, kitschige Musik schwappte ins Auditorium, strahlende Sonne und ein sentimentales Glockengebimmel versuchten an meinem Tränensäckel rumzuquetschen. Nein. Ohne mich. Der Tod, den ich gelesen, war düster gewesen, nächtlich, blutig, röchelnd, neblig, schorfig, erdverschmiert, rauh, laut und jäh verstummend im pubertären Entsetzen. Da fiel keiner im formvollendeten Stunt die kroatischen Felsen hinab. Nein. Es brachen und splitterten die Knochen. Es schrien die Geister. Und jetzt dies hier. Ich begann den fremden, allzusehr auf Wirkung und Versöhnung schielenden Bildern zu mißtrauen und entschied mich früh der Leinwand vor meinem inneren Auge die Erstaufführungsrechte in Sachen Phantasie (dem absoluten Gegenteil von Fantasy) einzuräumen.
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Mein Vater hat – keine alte Klage, es war halt so – nicht vom Krieg gesprochen. Einmal oder vielleicht zweimal sprach er von einem der Erlebnisse, welche er machen mußte. Als vielleicht achtzehnjähriger Soldat, Mann gegen Mann. Häuserkampf. Das reichte mir, um genügend eigene Bilder aus diesen kargen Worten zu ziehen. Nachhaltig. Meine Mutter, die mit ihrer Mutter und den fünf Geschwistern – die waren zwischen 11 und anderthalb Jahren alt – zu Fuß von Prag über Dresden nach Ilmenau floh, reagierte meist mit größerem Unverständnis, wenn ich erzählte, daß ich in Dresden war oder Prag und es mir dort gefallen habe. „Ich muß da nicht mehr hinfahren.“ Ich möchte mit den Bildern im Kopf meiner Mutter nicht einschlafen müssen. Letzte Woche hatte ich sie besucht. Sie sprach davon, was der Krieg in der Ukraine bei ihr und ihren Geschwistern wieder lostritt dieser Tage. Zum Abschied riet ich hilflos, sie möge auf die Brennpunkte verzichten und das Anschauen bildergetränkter Nachrichtensendungen stark einschränken.
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Den Redakteuren und Bildmächtigen sei ans Herz gelegt, die tägliche Dosis etwas runterzufahren. Ich glaube nicht an die Wirkung der großen Bilderwelle. Es kann schnell pornographisch werden. Und das soll ja abstumpfen. Emotionale Fluchthilfe statt Anregung über das Tun nachzudenken. Wer zuviel glotzt, schaut vielleicht am Ende weg.
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Mit eignen Fingern
Streiche über die Narben
Augen geschlossen
Und renne nicht weg
Vor der Leinwand die hinter
Deinen Lidern glüht
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Nachricht heute: Ein 96-jähriger Mann, der den Holocaust in den Lagern Buchenwald, Peenemünde, Dora und Bergen – Belsen überlebt hat, wird Opfer einer der Terrorbomben, die Putin auf Charkiw abwerfen ließ.
10 Uhr Nachrichten. Tankgutscheine her oder hin. Habeck bettelt in Katar um unseren Stoff. Weil unser alter Dealer durchknallt. Magath will Hart Härter Hertha retten und ist positiv. Keine Masken mehr. Oder doch und warum dann? „Nicht die Impfpflicht ist eine Zumutung, sondern keine Impfpflicht ist die Zumutung!“ Das ruft die jüngste Abgeordnete wütend ins Hohe Haus. Die Virustoten hier zu Lande? Stand heute: 126420! Schreibe:
Die Toten in der Ukraine sind nicht zu zählen. Die Toten, welche unser durchgeknallter Lebensstil weltweit produziert, noch nicht mal hochzurechnen. Ach ja! Man kann den Frühling schon richtig spüren. Oh welch Erkenntnis! Ist auch in jeder Nachrichtensendung dieser Tage tatsächlich mehrere Zeilen wert. Und die Sehnsucht nach den Helden, dem Heldentum in diesen Tagen. Ich verstehe das tiefe Bedürfnis endlich das gesamtgesellschaftliche Hotel Mama verlassen zu wollen – nun ja, wer es sich halt leisten konnte, dort ein Zimmer bezogen zu haben – um wieder ein richtiger Mann zu werden. Zumindest auf dem Sofa und von Genosse Putin beheizt. Kein deutscher Mann zwischen 18 und 60 dürfte das Land verlassen! Gelle! Auch nicht zum Kite – Surfen? Oder einfach nur zum Shoppen in Dubai? Nein, mein Lieber. Ja, aber ich bin doch geboostert! Junge, da verwechselst Du leider etwas.
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Man sollte weiterhin vorsichtig sein und halt ein bisserl langweilig bleiben. Held und Held ist leicht zu verwechseln. Deutschland und seine Ahnen haben, wenn, stets Angriffskriege geführt, nie Verteidigungskriege. Und schon gar nicht Freiheitskriege. Das haben andere für uns erledigt. Aber reden können wir. Das sollten wir tun. Und dann den vollen Rechnungsbetrag begleichen. Das Trinkgeld nicht vergessen. Und dann schweigen. Und wieder von vorne anfangen. Geduldig. Und die Brennpunkte und „Specials“ abschaffen. Ach, quatsch doch keine Opern. Wer spricht?
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Kommt, reden wir zusammen wer redet, ist nicht tot, es züngeln doch die Flammen schon sehr um unsere Not.
Kommt, sagen wir: die Blauen, kommt, sagen wir: das Rot, wir hören, lauschen, schauen wer redet, ist nicht tot.
Allein in deiner Wüste, in deinem Gobigraun – du einsamst, keine Büste, kein Zwiespruch, keine Fraun,
und schon so nah den Klippen, du kennst dein schwaches Boot – kommt, öffnet doch die Lippen, wer redet, ist nicht tot.
(Gottfried Benn)
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Und vor dem verhängten Spiegel Grimassen übend, frage ich mich, was ist denn nun ein Reden, was nur ein Quatschen?
„Der politischen Aussichtslosigkeit kann der Führer der Krimtataren, Refat Tschubarow, nur den Hinweis entgegenhalten, daß sein Volk bis jetzt noch immer alle Schläge überlebt habe. Denn realistisch ist es nicht, daß sich irgendwer auf der Welt für seine kleine Minderheit verwendet, die Ukrainer nicht, die wegen der Krim keinen zweiten Krieg gegen eine Großmacht führen werden, Europa schon gar nicht, das mit Rußland genug andere Konflikte hat, und Amerika … ach, Amerika war mal ein Traum.
Ich besuche Tschubarow in einer unscheinbaren Hinterhauswohnung, Geschäftsstelle eines Volks, wo er mehr melancholisch als empört die Schläge der letzten zweihundert Jahre aufzählt, Vertreibungen, Deportationen, Massenmorde, Verhaftungen, Landraub, Diskriminierungen, falsche Beschuldigungen, früher der Kollaboration, heute des religiösen Extremismus. Gerade hatte sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine und der Rückkehr der Tataren aus der Verbannung eine Zukunft abgezeichnet, eine gesicherte, friedliche und freie Existenz, in der sie die Trümmer ihrer alten Kultur hätten sammeln und neu aufbauen können, da hat die russische Annexion der Krim sie erneut zu Bürgern zweiter Klasse gemacht. Immer habe sein Vater in Samarkand gesagt, fast wie ein Gebet: Wir werden heimkehren, wir werden heimkehren. Er kehrte heim auf die Krim und starb am 13. März 2014, als in den Straßen wieder russische Soldaten marschierten. Seine Mama – der Sechzigjährige benutzt dieses Wort: Mama – lebt noch in der Heimat, nur daß er sie nicht mehr besuchen kann.
„Stalin hat meine Eltern deportiert, Putin mir die Eltern genommen.“
Eine realistische Perspektive, wie die Krim wieder in die Ukraine zurückgeführt werden könnte, vermag Tschubarow nicht aufzuzeigen. Rußland müsse stärker unter Druck gesetzt werden, sagt er beinah verzweifelt, um selbst zu konstatieren, daß der deutsche Außenminister Steinmeier im Gegenteil die Sanktionen aufheben wolle, um Verhandlungen zu führen.
„Du gibst einem Erpresser alles, damit er mit dir in Verhandlungen tritt – worüber willst du dann noch verhandeln?“
Ob ihn der Pessimismus nicht niederdrücke, frage ich. Nein, sagt Tschubarow, nein, es gebe so viele Lösungsmöglichkeiten, man müsse nur in die Geschichte schauen.
„In der Geschichte?“ frage ich. „Das zwanzigste Jahrhundert ist doch voll von Vertreibungen, und kaum eine ist rückgängig gemacht worden. Im Gegenteil: Länder wie Polen, Deutschland, auch die Griechen oder Türken konnten ihren Frieden nur machen, weil sie sich mit den Vertreibungen abgefunden haben.“
„Ja, aber Deutschland hatte noch ein Land. Die deutsche Sprache, die deutsche Kultur war nicht vom Aussterben bedroht. Die Führer der großen Nationenhaben kein Gespür dafür, wie es für Minderheiten ist. Wenn wir verlieren, dann verlieren wir alles. Dann gibt es uns nicht mehr.“
(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)
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Jeden Morgen trinke ich weiterhin meinen Tee aus einer Tasse, die mir zum Abschied damals in Sowetsk geschenkt wurde. Heute vergaß ich auch den Pin der Gesellschaft für Deutsch – Russische Freundschaft, der seit damals an einem meiner Jacketts heftet, vor dem Betreten der Fußgängerzone zu entfernen. Was ich schrieb vor 4 Jahren? (Eintrag vom 5. September unten) Die Ansage der Delegationsleitung damals: „Auf keinen Fall politische Themen anschneiden!“ Wir waren folgsam. Wir haben uns folgsam betrunken.
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1978 fiel der Stadt Hannover auf, daß der Führer noch Ehrenbürger ihrer Stadt war. Jetzt sind sie richtig schnell unterwegs. Die Stadt Gießen benötigte wiederum knappe 10 Jahre bis sie ihrem Bürger, dem Friedenspolitiker und Pazifist Horst Eberhard Richter diese Würde angedeihen lassen wollte.
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„Du kämpfst?“ frage ich erstaunt, weil ich mir einen wie Pavel, einen feinsinnigen Theatermann mit weicher Stimme, der Körperbau zart, so gar nicht als Krieger vorzustellen vermag.
„Ich habe mich als Reservist gemeldet. Irgendetwas muß man doch tun, wenn man auf dem Maidan war. Auch wenn man das in Kiew nicht merkt – wir haben nun einmal Krieg. Und abgesehen davon, ist die Miliz sehr interessant.“
„Warum?“
„Das sind Leute aus allen Schichten, mit denen hätte ich sonst nie etwas zu tun. Und es ist auch interessant zu erfahren, was eine Waffe mit dir macht. Das meine ich jetzt persönlich, aber das gilt natürlich ebenso fürs Land. Du fühlst dich nicht mehr so verletzlich.“
(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)
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Und nun sollen alte sowjetische Flugabwehrwaffen aus Beständen der Volksarmee die russische Aggression zumindest stundenweise stoppen. Mehr kann das blanke deutsche Militär wohl nicht tun. Perversionen unserer Geschichte.