Leben Luv Lee und der Flautenschieber

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Caravela / Lange Reihe 13 / St. Georg (HH) / 22. September 2021

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Sessho

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Wir müssen leben mit unseren Lügen

Wir müssen die Preisschilder von den Schnäppchen kratzen

Und neu einpreisen

Unsere Gewohnheiten zwischen einem Gestern und

Keinem Morgen bevor der

Felsen

Stürzt auch auf unsere Hoffnungen

Der Nordnordwest wartet nicht

Auf die gesetzten Segel

Und den Katzenjammer

Land ho

(Gießen / vorgestern bis heute)

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„Manchmal kletterst du morgens aus dem Bett und denkst, ich schaffe es nicht, aber du lachst innerlich – denkst daran, wie oft du dich so gefühlt hast.“ (Charles Bukowski)

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Auch wenn der Frühling kein Wert an sich ist, sondern eine Erscheinung, er tut gut. Das Licht. Doch schmähen wir nicht den Schatten. Der erzählt letztlich von der Sonne. Nur er. Sein Gegenentwurf ist schmerzlicher Sonnenbrand. Mit Folgen.

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was würde ich tun ohne diese Welt ohne Gesicht ohne Fragen

wo Sein nur einen Augenblick dauert wo jeder Augenblick

ins Leere fließt und ins Vergessen gewesen zu sein

ohne diese Welle wo am Ende

Körper und Schatten zusammen verschlungen werden

was würde ich tun ohne diese Stille Schlund der Seufzer

die wütend nach Hilfe nach Liebe lechzen

ohne diesen Himmel der sich erhebt

über dem Staub seines Ballasts

was würde ich tun ich würde wie gestern wie heute tun

durch mein Bullauge schauend ob ich nicht allein bin

beim Irren und Schweifen fern von allem Leben

in einem Puppenraum

ohne Stimme inmitten der Stimmen

die mit mir eingesperrt

(Samuel Beckett / aus: Sechs Gedichte 1947 – 1949)

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Vor ein paar Wochen sah ich mein Traumschiff. Noch angekettet. Aber freundlich vor sich hin und her schaukelnd.

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„Leben heißt: dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich. Dichten: Gerichtstag halten über das eigene Ich“. (Heinrich Ibsen)

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Das Leben Luv oder Lee? Wir entscheiden uns für den Flautenschieber.

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Konstanz – Staad / Jachthafen / 10. März 2022

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„Zum Blauen Engel“ war sein letztes Wort, dann trugen sie den Unrat fort

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St Pauli – Landungsbrücken / 22. September 2021

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Kintsugi

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Mit schweren Füßen schlurfte ich durch das furztrockene Frühjahr

Beton in den Oberschenkeln und den Kopf noch

In den windigen Wolken des letzten Herbstes

Die Regentropfen durchnummerierend

Keiner falle unvergessen in die Förde

Es ist an ihr nun dort vorüberzuziehen

Wo ich aufs Wasser starrte eingefroren herzensstarr

Nach der Flut kommt die Ebbe

Die langen Finger

Eiseskalt nicht mehr sammelnd den Schwall meiner Worte

Die Schlepper abgeschleppt ferne Bugwellen Richtung Nordmeer

Durch den Hinterausgang fiel ich besoffen auf verbeulte Pappkartons

Die dort durchfeuchtet sich stapelten

Einst voller Flaschen badischen Grauburgunders

Porto aufkleben sinnlos keine Nachbestellung mehr

Zähle die Regentropfen in denen du liegst

Von vorne

Und hoffe eine der Möwen hätte Dich

Wiedererkannt

Das Brot dir aus der Hand gerissen

Flecken kalkenden Kots dir auf der Stirn hinterlassen

Die tägliche Bö rüttelt an den Regalen in denen ihre Reime modern

Die Vase fällt

Ich klebe die Scherben zusammen

Pinsele Goldstaub über die Fugen

Kintsugi

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Ich bin leider heute allein

Sprach der Kellner im Speisewagen

Zur ungeduldigen Kundin

Wer ist das nicht

Dachte ich

In den Tagen dieses Kriegs

(ICE Offenburg – Frankfurt / Ende März 2022)

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Männer / Memmen / Merkel oder das Hohe Lied der Hilflosigkeit singen

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Erfurt / 10. Oktober 2021

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Meine Sicht auf die Welt ist die Sicht auf eine Bühne. Spätestens seit ich als Regisseur arbeite. Arbeitete. Nächste Woche habe ich meinen Termin bei der Rentenversicherung. Es wird ernst. Und es schmerzt. Das ist hier aber nicht ein Thema. Obwohl?

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Jede berufliche Deformation hat Folgen. Die Sicht auf die Bühne als Regisseur fordert von mir den Blick der Zuschauer, der meisten Zuschauer, also der Besserwisser, der Langsameren, der Verwirrten und all der eigentlich Uninteressierten. Für die muß ich hingucken. Wie wirkt das? Wie wirkt was? Also schaue ich auf die Welt, die stets aus tausend Wunden vor sich hin blutet und ich mir pflasterlos hilflos, wie viele, das Maul zerreiße zu diesem Drama und kann doch das Auge nicht abwenden.

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In unserem Land ist in dem aktuellen Drama – Nein liebe Zuschauer! Es ist nicht das erste und einzige jener Dramen, auch wenn der laute Flügelschlag dieser Tage es vermuten lässt! – besetzt in einer sehr großen Rolle Olaf Scholz. Fest hält er sein Textbuch in der Hand und vermeidet es in die Kamera zu blicken. Seine Schultern hängen. Er versucht seiner Stimme Halt und Stütze zu verleihen. Das Publikum wird unruhig. Was für eine Memme! Hat der auch Emotionen? Umbesetzen?

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Zwischenbemerkung 1: Wahrscheinlich einer der Gründe, warum Peter Zadek das Licht im Zuschauerraum während seiner Inszenierungen grell und hell aufdrehte.

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Hinter Olaf Scholz auf dem Bildschirm des Bundestags der Präsident der Ukraine, trainiert in Sachen Bühne, angetan mit einem Kostüm, welches den deutschen Durchschnittsmann aka die MEMME erblassen lässt vor (hormonellem?) Neid und er bläst uns bisherigen Weltmeistern in Sachen MORAL in dieser Causa dermaßen den Marsch, daß sich sogar Meister Kant in Kaliningrad in seinem Grabe umdreht. Mehr Waffen, weniger Tote?

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Zwischenbemerkung 2: Im September 2017 war ich in Kaliningrad zu Gast. Wir besuchten das Grab von Kant. Unsere Übersetzerin bemerkte: „Warum hat Euer Hitler nicht rechtzeitig kapituliert? Dann gäbe es Königsberg noch!“ Darf man an Selenskyj überhaupt noch so eine Frage weiterleiten?

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Ich bin in Sachen Krieg und Leichen bekennender Laie. Ich hatte bei der Bundeswehr ein hervorragendes Schießbuch. Das war es dann. Ich weiß nicht ob Olaf Scholz „gedient“ hat. Ist mir auch wurscht. Er ging nach der Generalabrechnung (Generäle rechnen? Womit? Mit Leichen?) aus Kiew im Bundestag zur Tagesordnung über. Geburtstagswünsche und dergleichen. Friedrich Merz – auch im nicht mehr wehrfähigen Alter – schäumte. Als Manndarsteller. (Zynischer Zwischenruf aus dem dritten Rang ohne Wurf eines Bierdeckels … Sorry! … Bierbechers: „Die Memme hat sich sogar von der Merkel abservieren lassen!“) Wie hätte sich Angela Merkel verhalten? Als Frau und Leitungspersonin zwischen Memmen und selbstermächtigten Männern. Hilflose Frage. Aber sollte doch noch möglich bleiben.

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Zwischenbemerkung 3: Lief mir eben ein alter Kollege über den Weg. Unsere letzte Arbeit war, nennen wir es so, traurig beschattet. Bei unerwarteten Begegnungen vereisen meine sonst geschwätzigen Lippen. Er schleuderte mir – im muskelbetonten Hemd – ein fröhliches: „Christian, ich wünsche Dir einen schönen Frühling!“ entgegen. Spielarten der Hilflosigkeit. Hüben wie drüben.

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Erinnere mich an die ein oder andere Mails aus Zeiten des Wahlkampfes letzten Jahr. Alter weißer Mann an alten weißen Mann: „Also die Baerbock. Eine Frau mit so einer Stimme. Wähle ich nicht. Kann ich nicht!“ Antwort: „Mit!“ Natürlich ist der Diskurs hier unzulässig verkürzt und banalisiert. Aber: Hand aufs Herz?

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Nachtrag: Etliche alte Männer sahen sich natürlich in den letzten Jahren stets auf der richtigen Seite der Geschichte. Die Memmen haben halt die Revolution verkackt. Nein. So würde das keiner ausdrücken wollen. Hilfslosigkeit halt. Die Gegenseite wedelte auch mit ihren Argumenten rum. Der Markt richtet das schon, ihr Karrierememmen! Und dann wird auch noch Boris Becker eventuell verurteilt. War der nicht mal ein Held?

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Nach der Bühne trifft man sich in der Kantine. Nicht weniger hilflos. Aber dafür umso lauter. Wer zahlt den Deckel, der noch am Tresen rumliegt?

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Hatte ich jemals eine Chance?

Das fragte er sie

Bei jener seltsam zufällig

Letzten Begegnung in der S – Bahn

Sie schüttelte leise den Kopf

Ihre Augen vor Zärtlichkeit überquellend

Verstummte dann

Hätte sie nicht nicken müssen?

(Hamburg / 3. Januar 2022)

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Vielleicht können wir ab und zu halt hilflos versuchen zu helfen. Danke!

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Die Zufriedenheit in Zeiten des Krieges und von der Abwesenheit des Glücks

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Peter-Sodann-Bibliothek Schmalkalden (Thüringen) / 5. Oktober 2021

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Vorgestern schlurfte ich durch diese Stadt hier vor Ort und sah in einem Schaukasten, daß man plant eine alte Inszenierung von mir wieder zum Leben zu erwecken. Da ich mit dieser Institution – sprich der Leitung – nichts mehr zu tun habe und auch will, wurde ich nicht gefragt in Sachen Wiederaufnahme. In Ordnung. Wobei: selbst in Zeiten des Krieges gelten alte Absprachen? Die Teilnehmenden machen das jetzt mit sich selber aus.

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Gestern – einer der zentral Teilnehmenden hatte eben – Huch! – die Straßenseite gewechselt, professionell eine Voice – Mail darstellend und an der nächsten Ecke tat ich es ihm gleich und vermied dieses oder jenes. Zwei Ecken weiter traf ich einen weiteren alten Mitstreiter. Nachdem wir die Krankheits – und Genesungsgeschichte meines linken Armes abgehandelt hatten, stießen wir auf den Krieg. „Also, wenn man sich vorstellt jetzt in Russland oder Weißrussland leben zu müssen und nichts sagen zu dürfen! Das ist doch brutal!“ Ich trippelte etwas vor mich hin. Mir fiel kein Termin ein, der mich hätte von dannen ziehen lassen. Also sagte ich: „Na ja, das mit dem sich wehren ist ja immer so eine Sache. Hier kommen wir ja nicht gleich in den Knast!“ Dann wurde zurückgetrippelt. „Du, ich muß!“

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Heute holte ich ein Büchlein eines guten Freundes – freue mich sehr, daß wir wieder in Kontakt sind – aus dem Briefkasten. Ich setzte mich ins Café und las: „Er hat viele Freunde, die ihre Zeit damit vertun, auf das wundersame Ereignis zu warten, das sie erlöst, das aus ihrem Leben, das sie als triste Bleistiftskizze wahrnehmen, ein farbenprächtiges Ölgemälde macht. Freunde, die über diesem Warten blind geworden sind für die glücklichen Augenblicke. Außerdem muß man das Glück aushalten können. Viele seiner Freunde tun alles, es zu zerstören, überzeugt davon die Erfüllung könnte schlimmer sein als das Scheitern, getrieben von der Gewissheit, daß nichts der Hölle ähnlicher ist als das Paradies.“

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Eben eilte ich nach Hause. Ich hatte vergessen, daß die Wäsche in der Waschmaschine vor sich hin suppt. Da die Sonne scheint – viel zu verbissen für diese Jahreszeit … äh, siehe nächster Abschnitt – falte ich den Wäscheständer auf den Hinterhof auseinander. Ich komme ins Gespräch mit unserem russischen Nachbarn, der das Gespräch sucht. Ist er Russe? Ein Elternteil aus der Ukraine, das andere aus Kernrussland, aufgewachsen ist er in Kasachstan. Damals noch Sowjetrepublik. Die Gattin Tochter einer Deutschen und eines Russen. Die Tochter hier aufgewachsen. Vielversprechendes Sporttalent. Ist sie jetzt Russin? Spielberechtigt? Sein Smartphone vibriert im Fünf – Minutentakt. Er arbeitet in Frankfurt. In einer Bank. Er muß. „Wir werden weiter reden!“ Und geht. Bis bald!

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Dann biegt um die Ecke die schwäbische Psychologin aus dem Nachbarhaus. „Hallo, Chrischtjan! Etz wirds Sommer!“ „Deshalb hänge ich ja die Wäsche hier auf!“ „Und nächschte Woche wird’s aber wieder kalt!“ „Gott sei Dank. Hoffentlich regnet es den ganzen April!“ „Dess find i aber itt so gut!“ Germania der blinde Glückskeks.

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Jetzt sitzt ich vor dem Bildschirm und angeregt durch das Buch meines Freundes H. höre ich, während ich das hier zusammentippe, Musik die mich zufrieden macht. Auch mit dem heutigen Tag. Glück kann dann morgen. Oder später mal. „Bitte schööön!“

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Durch diese hohle Gasse muß er kommen! Knalle ihn ab, Wilhelm!

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Grenzgebiet zwischen Litauen und der Oblast Kaliningrad (Russland) / 23. Juli 2011

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Erst roch es nach Krieg

Ich schliff mein Schwert zur Gabel

Die Suppe einzubrocken

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Es zog ein der Krieg

Ich schliff die Gabel zum Schwert

Suppen auslöffeln

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In unserem Krieg

Gibt es nur Kränze die

Wir – ach klage nicht

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Am Sonntag telefonierte ich mit einem meiner ältesten Freunde. Ich wollte ihm mitteilen, daß ich seit etwas mehr als einer Woche wieder beidhändig bin und sogar schon – Gruß gen HH mit Dank – Gitarren sinnstiftend anfassen kann. „Dann kannst Du ja jetzt Putin erwürgen!“ Seine Antwort, unser gemeinsamer Humor. Ich dachte an meinen Deutschlehrer, den gescheiten Herrn L. und wie er uns dringend davon abriet Staufenbergers und Weizenäcker als Kohorten des tatsächlichen Widerstandes zu begreifen. „Meine Damen und Herren, diese Herren erheben sich gerne anstelle des Kalifen oder wenn die Messe gelesen!“ (obiges aus der Erinnerung zitiert!) „Und beschäftigen Sie sich mit Georg Elser!“ Und dann lasen wir den Tell und ich schnitzte mir eine Armbrust. Ein Jahr später erwählte ich mir den ausgerufenen „Freiheitskämpfer“ Mao Tse Tung (so geschrieben als Peking noch nicht grammatisch einfühlsam gesprochen wurde) als Vorbild. Traurig, aber wahr. Wenn einer endlich den kleinen dicken Vixer P. abserviert, ist es wohl einer aus dem inneren Zirkel. Begrabe Deine romantischen Anfälle an der Krümmung der Gasleitung. Und: Freunde des unreflektierten Gekickes! Lieber Franz und Lichtgestalt! Freuen wir uns auf Katar im Winter! Zu Gast bei Freunden!

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Ach was ein vorsichtiges und vorsorgliches Land, in dem ich lebe. Da gehe ich als 65-Jähriger in die Apotheke und will mir kaufen die etwa hunderttausendste Packung Schmerztabletten meines Lebens. Nach all den ungezählten Katern, Erkältungen, Rückenschmerzen. Die junge PTA: „Sie wissen, wie man mit diesem Medikament umgeht?“ Die grauen Falten unter meinen müden Augen bemühen sich nicht zu zucken und meine Lippen zerbeißen eine Unflätigkeit. Mit Schwung rollt heran das Gefährt des Gefährten der Fürsorglichen. Ab nach Hause in die Vorstädte. „Gib Gas! Hab Spaß! Hier geht noch 180 km / h!“ Noch ein halbes Jahr bis zum nächsten Pulli. The Heat is on. Und dann schaun mer mal. Weiter.

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Ihr Vater habe immer gesagt, wenn man freundlich sei zu den Menschen, seien diese auch freundlich zu Dir. Sie grinste mich an. Das sei doch so. Ich nickte, weil ich sie mochte. Warum, das wagte ich nicht zu sagen, haben wir vergessen uns zu wehren und beten Tag und Nacht – wahrscheinlich noch nicht mal dies, wir setzen es einfach voraus -, daß der Krug in unseren Fingern zerbricht, ohne uns zu schneiden? Eine Woche Leid ertragen und dann ist aber auch gut? Ich habe doch gespendet. Nein. Die Ruh‘ ist hin, wenn sie hin ist.

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Wird schon werden Welt

Will ich rufen über den

Tisch der zwischen uns

Schweigt nicht abgeräumt

Noch nicht gedeckt wieder

Bleib sitzen

Zeit

Die wir nicht haben

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Manchmal ist Stolz halt fehl am Platz

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Stolperte unlängst über ein Zitat von William Blake. Sinngemäß schrieb er, ein Narr müsse konsequent ein Narr bleiben. Dies sei für ihn die einzige Möglichkeit zur Weisheit zu gelangen. Wenn dem so ist, habe ich in letzter Zeit ordentlich Bonuspunkte einsammeln können. Die einen nennen es sich zum Affen machen. Andere sprechen von Liebe. Oder mit Keith Richards: „At least you learned how to love a fool!“

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Schlaflose Nacht. Draußen stürmt es sich ein. Der Regen klatscht gegen die Fenster. Der volle Mond nicht zu sehen. Aber er ist spürbar da. Außerdem macht mein operierter Arm Sperenzien. Gute Gelegenheit die Stadt der letzten wirren und wilden Monate innerlich zu verlassen. So eine Art Schmerztransfer. Das ist in Ordnung. Wo der Schmerz akzeptiert wird, hat das Leiden keine Chance.

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Denkpause. Mal schauen, wo danach gelandet wird.

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Der Zeigefinger erhebt sich

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Wahre Liebe vergibt

Selbstliebe nie

Schrieb er in sein Tagebuch

Hundertmal

So wie man es ihm einst in der Volksschule

Beigebracht hatte

Fünfzehn Jahre nach dem Großen Krieg

Die fünf Finger des Vaters noch

Glühend im Gesicht

Er hat ihm vergeben

Lange schon

Nun brach er auf

die Liebe wiederzufinden

Jene die er

In den letzten Jahren besungen hatte

Diese eine besondere

Liebe

Das war er ihr schuldig

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Du atomisierst mich

Das hatte er noch vergessen ihr zu sagen

Damals

Er kniete auf seinem abgestürzten fliegenden Teppich

Und begann sich einzusammeln

Noch war seine Brille

Beschlagen

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(Gießen / Ende Januar)

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Drei Ambivalenzen

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Die Erwartung des eigenen Todes

Macht die Menschen verrückt

Trennung ein Abgewiesen werden ist Sterben

Mit jedem Tag dem man einem Ende entgegen wandert

Gewinnt ein Gehen

Ein Gegangen werden

An Gewicht

Man wird verrückt vor Angst

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Um sie wieder sehen zu können

Mußte ich sie vom Podest stoßen

Welches ich errichtet hatte

Bombenfest

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Etwas nicht zu tun

Ist meine Spezialität

Sagte sie

Du wirst begeistert sein

Meinen Sockel kann man

Zusammenfalten

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Leere

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Dir entfallen

Alle Worte

Rief mir zu

Im verregneten Wald

Eine erfrischende Leere

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(Klinikum Konstanz / Ende Januar 2022)

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Jetzt fahr’n wir über’n See, über’n See!

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Gestern schrieb mir ein geneigter und auch zugeneigter Leser meiner Verlautbarungen hier eine Mail. (Danke für das lapidare: „Tja!“) Er schrieb von den rückkehrenden Kranichen dieser Tage – ich hatte sie vorgestern auch über mir – und wie er beobachtete, daß sogar Störche sich ein Nest suchen. Dann schreibt er: „Ankunft nach langer Reise, ein schöner stiller Moment. Allerdings auch gedacht: zu früh?“

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Zu früh? Ja. Ist so eine Sache mit den Entscheidungen. Es wird gefordert allenthalben – oft ist man selber Mitglied in diesem gelegentlich schrillen Chor – die schnelle und endgültige und vor allem wirkmächtige Entscheidung. „Du weißt auch nicht, was Du willst!“ Ach Ungeduld! Dinge auszuhalten, ihnen keine Gewalt anzutun – meist sind die „Dinge“ ja Menschen – nicht einfach, manchmal jedoch vonnöten bis dringend geboten.

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Gestern noch gelesen: man möge nicht immer die selben Alleen runterlatschen, will man sich einer vertrackten Situation nähern. Aber auch: beim Blick in die Sterne möge man aufpassen, daß dir der Kopf im Nacken nicht von den Schultern rollt.

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Dulce est periculum (Rendsburg revisited)

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Süß ist die Gefahr

Dulce est periculum

Auf nüchternen Magen kalten Wein

Ich trete meine Ängste stumm

Schmerz verspricht Inspiration

Der Suff erlöst vom Leiden

Der Tod macht Sonderangebote

Der Wind schüttelt die Weiden

Ein Strick geknüpft baumelt hinab

Gesundheit wie vulgär

Der Tunnel ist mein Tanzlokal

Ich fühl‘ mich leicht wenn schwer

Ein Bummelzug die Sonne sank

Wir träumten aus dem Fenster

In dieser Stunde neben ihr

Da schwiegen die Gespenster

In Riesenbögen führt die Brücke

Um unser Glück herum

Ich ritz‘ den Tag in meine Haut

Wir waren so schön stumm

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(Im IC nach Karlsruhe / 24.1.22)

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Kleines PS und Einschub: Saß heute – am 17.2. – in der Notaufnahme des Evangelischen Krankenhaus in Gießen, da ich morgen nochmals unters Messer muß. Während ich vor mich hin wartete, lief im Fernsehapparat vor Ort eine Doku über oben bedichtete Brücke in Rendsburg. Nee, oder? Jetzt ist aber mal gut mit diesen ständigen Querverweisen, bester Freund Kismet! GELLE!

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Ein Winter

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Der See hat sich zurückgezogen

Ohne Hast breiter der Strand

Eine fahle Sonne schwach

Legt sich an mit dem Hochnebel

Das Glitzern der Wasseroberfläche

Mache daraus kein Versprechen

Keine Wette auf eine Zukunft

Bleibe hier und lausche

Vergangenheit zu Deinen Füßen

Milde nichts einfordernd

Kindheit

Adoleszenz

Euphorie

Stillstand

Ausbruch

Aufbruch

Alter

Grab

Du bist nichts Besonderes

Raunzt eine Möwe

Die Ente putzt sich ihr bescheidenes Gefieder

Morgen schon könnte es schneien

Ein Fischerboot schnurrt vorbei

Plötzlicher Wind

Wirft Wellen ans Ufer

Wieviel Meilen noch zu gehen

Die Füße übernehmen das

Kommando Schweig

Wo gehen wir hin

Ich weiß nicht aber

Wir müssen los

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(Konschtanz am Hörnle / 26.1.22)

……

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Sturmwarnung

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Kältegrün

Frostweiße Schaumkronen

In den bleigrauen Dunst geworfen

Aufgepeitscht vom

Wind des Nordens

Schlüpft der See in die

Larve „die See“

Ho Narro

Narri Narro

Tanze Boot Tanze

Der Katamaran jedoch fährt

Seine Flügel aus

Leicht schwankend nur

Hält er den Kurs

Vom Nebelufer her blinken

Die Warnlichter

Der Sturm der Sturm

Er kommt hab acht

Ach

Ich habe ihn hinter mir

Den großen Sturm

Kältegrüne Augen

Frostweißer Abschied 

Lodernde Furcht

Schmiede das Eisen

Heinrich komm und schmiede

Solange noch Tag

Und der Blasebalg bläst

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(Katamaran FN – KN / 1.2.22)

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Im Winter das Laub zusammenfegen unter einem roten Sommermond

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Ein, zwei, drei Tage will ich noch als „einarmiger Bandit“ das Reimlaub des letzten Winters zusammenfegen, in den Vollmond glotzen und den Herzenskomantsche „Kleiner Wolf“ sein Liebesleid jaulen lassen und dann iss auch mal gut. Freue mich schon auf die Wut. Nein natürlich nicht. Wir sind ja alle so vernünftig. Ähem, also … Gibt es da draußen noch Welt?

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der wolf kennt nur ein einziges lied

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der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

wenn er dem mond ein ständchen singt

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

wenn er mit seinem kummer ringt

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

es jagt ihn seine ungeduld

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

er jault von einer alten schuld

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der wolf kennt nur ein einzig lied

ein blues der meist in moll

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

und singt die monde voll

der wolf kennt nur ein einzig lied

und reißt das nächste schaf

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

und raubt dem dorf den schlaf

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der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

sie rotteten ihn aus

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

verlassen öd das haus

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

heut‘ nacht kehrt er dir wieder

der wolf kennt nur ein einzig‘ lied

und schenkt‘s dir immer wieder

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(gießen / januar 22)

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Indian Summer

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Gestern sammelte ich

Die braunen gelben roten

Blätter

Du hattest sie vom

Baum Deiner Liebe

Hinabrieseln lassen

Ich klebte sie

Wieder an die kahlen Äste

Nein, oh nein, gut sah das nicht

Aus

Nekromantie törichte

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(Klinikum KN / nach OP / Ende Januar 22)

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