Vom Abnagen krachender Knochen / Fangen wir wieder an zu rauchen 15

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Pfronten / Dorfwirt / 11. Juni 2022

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Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald. Einst klang dies in den Ohren vor allem der Kinder wie eine Verheißung. Der monatliche Höhepunkt auf dem familiären Speiseplan. Papa holt ein / zwei Hähnchen aus Friedrich Jahns Gockelbude, Mama macht Fritten im Backofen. Und Mayonnaise ohne Ende aus der Tube. Und dann wird genagt bis das Zitronentuch zum Einsatz kommt und die Fettfinger wunderbar chemisch und frisch riechen. Es gibt solche und solche Nager. Die einen lassen was am Knochen hängen, die anderen nagen die kleinsten Fitzelchen bis auf die Knochenhaut runter und werden trotzdem nicht satt. Extremisten lassen sogar die Knochen krachen und saugen sie aus. So verfahren wir dieser Tage mit Mutter Erde. Wohlfühlmassaker allenthalben. Lassen wir was über.

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RAUCHPAUSE / Teil 15

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Meine Haustürklingel meldete sich, Sturmklingeln. Ich hatte keine 4 Stunden geschlafen. Ich öffnete. Vor mir ein Mann in Cordjacke. Er hält mir seinen Ausweis unter die Nase. Gesundheitsamt oder Ordnungsamt. Er übergibt mir ein Schreiben: „Wegen Verstoßes gegen das NRSG, Abschnitt 1, Paragraph 6 und weil sie nicht nur Gast, sondern Mitinhaber und als Exempel. Kurz und knapp: 2500€ Bußgeld.“ „Wie? Was? Wo? Und wann?“ „Heute nacht gegen 1Uhr27. Im „Wind und Wasser“. Finden Sie das eigentlich nicht einen bescheuerten Namen für eine Kneipe? Man hat sie gesehen, wie sie es getan haben. Sogar mit einer Rothhändle. Ohne Filter.“ „Zur Feier des Tages.“ antworte ich. „Haben Sie da noch eine übrig?“, fragt er mich. Also sitzen wir da zusammen in meiner Küche und zwei Rothhändle brennen. Er ist sehr freundlich: „Wissen Sie, ich tue nur meine Pflicht.“ „Kein Problem. Eine Frage nur, wer hat mich gesehen?“ „Eine Frau hat uns angerufen.“ „Danke, schon gut, will ich gar nicht wissen.“ Mein Schädel bummert und schreit nach Erlösung. „Ich überweise das heute noch. Kein Problem. Hier, die Packung Rothhändle schenke ich ihnen. Auf Wiedersehen.“

Das Lasso. Total bescheuert. Hansi und ich damals in Texas. Dieser uralte rote Toyota Corolla, den wir überführten vom Osten in den glorreichen Westen war zusammengebrochen und wir hingen in irgendeinem traurigen Kaff fest. Corpus Christi. Hosianna. Kreuzigt ihn. Hansi hatte die vollkommen wahnwitzige Idee ein Lasso zu kaufen, die Zeit zu nutzen und Cowboy zu trainieren. Also stehen wir zwei Tage in der Wüste, während die Mechaniker auf die Ersatzteile aus Yokohama warten und versuchen mit dem Lasso Gebüsche und Zaunpfähle einzufangen. Später haben wir das als kleines Ritual hier in der Heimat eingeführt. Einen leeren Bierkasten auf einen Holzpflock oder Tisch gestellt. Und wer als erster den Bierkasten fängt, gewinnt eine Packung Reval. Bißchen albern, gebe ich zu. Aber kreativer als Everquest oder Warcraft.

Nun gut, vor einiger Zeit im Rahmen von irgendeiner ominösen Basis – Fengshuisierung von Hansis und Gittis Wohnburg hat mir Hansi das Ding vermacht: „Paß Du bitte auf „Holden Caulfield“ auf.“ Holden Caulfield. So hieß das Lasso. Hansi hatte ja die Angewohnheit alle Gegenstände benennen zu müssen. Holden Caulfield. Der Fänger im Roggen. Hansi reichte mir das Lasso, sagte: “Nimm Du das bitte. Ich kann mit diesen seltsamen Energien nicht mehr umgehen. Verstehst Du? Was Erinnerung so auslöst. Körperlich. Und Gitti meint auch, man muß sich von Dingen trennen können. Zum Beispiel von der ewigen Pubertät, die gerade uns Männer öfters krankmacht und so. Verstehst Du?“ „Schon gut.“

Was jetzt kommt, darf ich gar nicht erzählen. Zu lächerlich. Obwohl so lächerlich, wie hier draußen stehen, frieren und klagen ist es dann auch nicht. Meine Fresse. Sehen alle so lächerlich aus, denen man was weggenommen hat? Der gute alte Verlust. Täusch ich mich, oder wird es gerade was wärmer. Selbstgratifikation. Ok. Das noch. Auf Bewährung. (zündet sich eine letzte an)

Ein bißchen komisch kam ich mir schon vor, als ich morgens um 9 mit einem Lasso über der Schulter und einer Stange Reval unter dem Arm durch die Gassen einer deutschen Kleinstadt stolperte. Bevor Hansi überhaupt realisiert hatte, was hier abgeht, hatte ich ihn mit dem dreifachen Nevadaloop zu Fall gebracht, fachgerecht verschnürt – Yeeha! – und an seinen Kühlschrank, den guten alten Gevatter Bosch gefesselt. „Holden Caulfield“ gehorchte mir wie in den besten Tagen. Dann zwei Reval angezündet und die eine, die seine, in seinen Mund gesteckt. „Und jetzt inhalier, Judas.“ Dann ging ich zur Stereoanlage und legte die CD mit seinem Lieblingssong ein – „I´m free“ von THE WHO – und drückte die Repeattaste:

I’m free. I’m free.

And freedom tastes of reality.

I’m free. I’m free.

And I`waiting for you to follow me.

If I told you what it takes to reach the highest high

You’d laugh and say, „Nothing’s that simple.“

But you’ve been told many times before, Messiahs pointed to the door

No one had the guts to leave the temple.

I’m free. I’m free.

And freedom tastes of reality.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Begriffe so lange kneten, bis sie nicht mehr wissen, was sie erzählen sollten / Fangen wir wieder an zu rauchen 14

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Reutte / Tirol / 16. Juni 2022

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Redlichkeit. Ein altes Wort. In Moralsaucen aller Art über Jahrhunderte mariniert. Aufrecht gehen. Ritterlichkeit. Fällt mir heute dazu auch noch ein. Einsicht in die Notwendigkeit. NOT. WENDIGKEIT. Sprich: Begreifen. Und was man spricht, nach Abwägung (noch ein schönes im Sterben liegendes Wort) vieler Aspekte der Not – Muß man hier und heute gar wenden? – redlich bedenken. Gelingt uns sehr selten. Und dann packen wir das schöne Wörtchen redlich in den fürchterlichen Satz „Das habe ich mir doch redlich verdient!“. Während wir mit 200 km/h über den Highway brettern und unseren Steuerberater anrufen, ob da nicht noch was gehe, prinzipiell. Nur für diesen kleinen bedeutungslosen Kick heute auch mal eine Lichtgestalt gewesen zu sein, die die absolute Kontrolle über sein beschossenes Fürstentum namens Leben für fünf Minuten zurückerobert.

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Vor kurzem sagte ein ehemalige Schauspielkollegin was sehr Schönes. „Ich kann das Wort gemeinsam nicht mehr hören. Machen wir es doch einfach zusammen!“ Wir müssen uns alle dringendst entfloskeln. Und das redlich.

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FRÜHER fuhren wir zum Beispiel nach Griechenland. Mit elterlichen Geldern. Entdeckten einen Strand. Griechenland war billig. Da iss keiner. Das ist mein Strand. Kann man unbehelligt dingseln. Änderte sich irgendwann. Haben wir uns bis an unser Lebensende das Recht auf ungestörtes Dingseln redlich verdient? So ein Blödsinn. Heute humpeln wir rentengefüttert durch die heimischen Wälder. Wenn wir es uns leisten können. Seit einiger Zeit tun dies auch jüngere Menschen. Nicht wirklich leiser als wir damals sind sie. Sie dürfen das. Oder? Habe ich mir die Stille, sobald ich die Bühne Wald betrete, redlich verdient? Warum? Ich finde darauf keine Antwort. FRÜHER gibt es nicht. Auch Vater hatte einen Vater.

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RAUCHPAUSE / Teil 14

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Gonzo hat sich dann bereit erklärt den Schlichter zu machen. Und er hatte eine geniale Idee. Die sogenannte Gerade-Ungerade-Tageregelung. Das „Aquarium“ – Verzeihung das „Wind und Wasser“ – wurde, wie ich es gerne ausdrücke, zu einer veritablen „Wendejacken“ – bzw. „Große Koalitionskneipe“. Gerade Tage Hansi und Gitti. Keine Luftverpestung, Tee und sonst nur noch alkoholfreies Weizen. Ungerade Tage und traditionsbewußtes Kneipenleben unter meiner Leitung. Das hatte auch noch seinen tieferen Sinn, weil, wie mir Gitti klarmachte, steht der gerade Tag für die positive Energie und umgekehrt der ungerade für die eher nicht so positive. Kann man akzeptieren. Kröten zu schlucken hatte jede Partei. Das Pärchen mußte nach meiner Schicht die ersten drei Stunden bei offenem Fenster arbeiten. Feng Shuisierung der Raumluft sozusagen. Ich durfte dafür zu Beginn meiner Schicht Teebeutel und Zuckertütchen aus den Aschenbechern fummeln und die Weizenbiergläser von frischen Schnittblumen befreien. Es war ein bescheuerter Kompromiß, aber jeder hatte das Gefühl, wir seien da alle mit einer Win-Winsituation raus. Funktionierte leidlich. Die Schnittmengen waren klein, aber vorhanden.

Kompromiß. Teilen. Sich entgegenkommen. Machen wir es doch so. Hier draußen Heizung und Gift. Drinnen gesund und kälter. Aua. Aua. So langsam dreh ich am Rad. Komm, geh rein, du sentimentales Rindvieh. Rede mit anderen. Nein. Haltung. In Ordnung, eine noch. (schmeißt noch ein paar Zettel ins Aschenbecherlagerfeuer und zündet sich daran eine an)

Jetzt hatte ich natürlich nicht mit diesem Tsunami NRSG gerechnet. Ich dachte, so ein Gesetz dauert und dauert. Pustekuchen. Es kam quasi über Nacht. Das Fallbeil. Die Wende. Das NRSG. Die ersten Warnzeichen – keine Cowboys mehr in der Kinowerbung, die hübschen Kurzgedichte auf den Packungen, seltsame Nachrichten aus Irland und Italien – hatten wir nicht wirklich ernstgenommen. Jetzt war es da. Von einer Sekunde auf die andere. Ab dem 1. Oktober 2007 gab es nur noch gerade Tage. Und plötzlich stehst Du so was von auf der falschen Seite. Gitti grinste ab sofort Tag und Nacht wie 30 Buddhastatuen. Hansi knetete unentwegt seinen Handrücken.

Der 30.9. war ein, obwohl gerader, sehr trauriger Tag. Das „Wind und Wasser“ war rappelvoll. Die Stimmung hatte was von Abiturfeier und Abschied. Ich hatte der treuen Kundschaft 10 Stangen Gift zur Verfügung gestellt. Ich sah Fluppen in den Gesichtern von Menschen, wo ich sie noch nie gesehen hatte.  Für Mitternacht, die Minute der Ankunft des Monsters NRSG hatten sich Gonzo und noch ein paar Hardcore – Giftler was Hübsches einfallen lassen. Punkt Mitternacht betraten sie die Kneipe mit einem dieser „Laubwegpustegeräte“ – ein wahnsinniges Gedröhne – pusteten damit die noch brennenden Todesfinger aus, schütten den Inhalt aller Aschenbecher in einen riesigen Plastikeimer, verließen die Kneipe und kippten sich den Eimerinhalt aufs Haupt. Dort stimmten sie einen lauten Wehgesang zu den Klängen von „Yellow Submarine“ an: „Wir haben schwer gesündigt und hörn jetzt damit auf, hörn jetzt damit, hörn jetzt damit auf. Verzeihet ihr Gerechten, drum die Asche auf dem Haupt, Asche auf dem Haupt, Asche auf dem Haupt.“ Eine große Geste. Fand ich.

Es mag vielleicht gegen 1 / halb 2 Uhr morgens gewesen sein. Ich hatte mir eine sozusagen „Letzte vor Ort“ ins Gesicht gesteckt, als es plötzlich mit aller Macht von draußen gegen die Eingangstüre donnerte. Ich erschrak mich zu Tode und ich fiel rücklings vom Barhocker und war weg.  Als ich wieder zu mir kam, sich die Schockstarre löste, lagen neben mir die restlichen 3 nicht konsumierten Stangen fein säuberlich zerbröselt und auf meiner Brust klebte ein handgeschriebener Zettel mit den Worten: „Dafür wird gebüßt, du Verpester.“ „Das war sie nun die neue Zeit!“, habe ich mir gedacht. „Nehmen wir alles nicht so ernst. Vielleicht war es nur ein Geist und ich träume bös.“ Ich schlich nach Hause. Mein letzter Blick in den Badezimmerspiegel zeigte mir, daß sich auf meinem Schädel eine beulenhafte Erhebung gebildet hatte. Sehr schmerzhaft dazu. Nun gut. „Solange dein Leben in Gefahr ist, weißt du, daß du lebst. Der Rest ist Fernsehen.“ Dann zählte ich Schafe. Ich schlief ein, komatös und von Alpträumen geplagt.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Mal was weniger, mal was mehr fühlen, statt sich gescheit denken zu müssen / Fangen wir wieder an zu rauchen 12

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Pfronten / Frühstück / Geburtstag / 14. Juni 2022

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Manchmal reicht ein Zitat aus einen ganzen Tag gescheit zu füllen. Dachte ich so unverblümt naiv heute: „Männer haben häufiger das Problem, daß ihre Frau nicht mehr ist, wie sie mal war, Frauen dagegen, daß ihr Mann immer noch so ist, wie er mal war. Wie also können wir objektiv über Veränderungen sprechen?“ Notiert von Susanne Schneider im heutigen SZ – Magazin. Kam gerade meine Frau rein nach der Arbeit und sagte: „Stimmt so nicht! Leider nur Brigitte – Niveau!“ Überrascht werden ist gut. Na dann. Weiter im Text.

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RAUCHPAUSE / Teil 12

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Gut, Hansi hat es schon richtig umgehauen. Ich wußte bis dahin überhaupt nicht wie es auf einer Intensivstation aussieht und was es da alles für Apparate gibt und wie viel Substanzen und Flüssigkeiten man in einen Menschen reinpumpen kann, um ihn am Leben zu erhalten oder wieder zurück zu holen. Speiseröhrenriß. Das Pech muß man erstmal haben. Klar, Du mußt davor deine Innereien schon ordentlich mit allem möglichen malträtiert haben. Aber so was kommt in ganz Deutschland vielleicht 10 bis zwanzigmal im ganzen Jahr vor. Das hat der Professor mir erzählt, der Hansi das Leben gerettet hat. Lustiger Typ. Der hatte in jeder Pause sofort ein Ding im Mund. Hat mich an meinen ersten Hausarzt erinnert. Auf seinem Schreibtisch in Behandlungszimmer immer ein halbvoller Ausdrückbecher. Und mit seiner Reibeisenstimme pflegte er zu sagen: „Nehmen Sie Platz, junger Mann. Das ewige Leben kriegen Sie hier nicht, aber Pflästerle und allerlei Tinkturen.“  Oder, werde ich nie vergessen, mein Geschichtsprofessor damals an der Uni. Zweierlei, sagte er vor jedem Seminar, werde er in seinen Vorlesungen nicht dulden: Fresser und Klapperer. Wer also gedenke, seine historischen Studien mit einem Apfel zu versüßen, Stullen zu schmatzen oder („Das sind die Schlimmsten“) einen von den damals gern getragenen Norwegerpullis zu stricken, solle lieber das Weite suchen. Rauchen war erlaubt. Bier auch. Das waren Zeiten. Ein Hohelied der Sorglosigkeit gesungen. Wir zahlten an die Krankenkasse brav.

Damals aber, als ich fast täglich im Krankenhaus war, um Hansi zu besuchen, da war ich abstinent. Gar nicht mal wegen Hansi. Sondern eher, weil: vor der Klinik standen die Patienten. Im Morgenmantel. Mit Schlappen an den Füßen. Thrombosestrümpfe. Bleichgesichtig. Etliche sogar an ihr Infusionswägelchen angeschlossen. Und sie haben sich eine reingezogen. Brutal. Ab und zu kam eine Krankenschwester vorbei und hat streng gekuckt. Sonst nix. Das war mir dann doch einer zuviel.

Krankenschwestern. Auf irgendeine Art und Weise bewundere ich sie. Obwohl sie mir erst einmal grundsätzlich suspekt sind. Alles was nach Helfersyndrom riecht, macht mich nervös und unleidig. Schon wenn meine Mutter mir damals die Jacke zugeknöpft hat, habe ich nichts anderes gespürt als Abhängigkeit. Dann lieber frieren. Krankenschwestern. Gitti. Hansis Hauptkrankenschwester auf der Intensivstation. Haut und Knochen. Als liefe sie jeden Tag zwei Marathons. Einen vor, einen nach der Schicht. Aber leuchtende blaue Augen hatte sie und wenn man sich 10 Kilo dazu denkt, eine Schönheit vor dem Herrn. „Bleiche Göttin.“ So der bei Charon anklopfende Hansi. Mir fiel dann bald auf, daß, wenn sie an irgendeiner der tausend Kanülen und Kabel und Schläuche, mit denen sie Hansi wieder ans Leben gebunden hatten, herumwerkelte, ihre langen schmalen Finger verdächtig lang auf Hansis Arm oder Schulter liegen blieben.

Irgendwann kam Hansi raus. Und war nicht mehr alleine. Der erste Abend mit Hansi im „Aquarium“. Wir sahen beide gleich Scheiße aus. Ich, weil ich praktisch 3 Monate durcharbeitet hatte und vor lauter Schiß um das Leben von diesem Depp eher wenig bis kaum geschlafen habe und Hansi, weil er erst seit einer Woche wieder bei fester Nahrung angelangt war. Unser Kneipenloch war nicht wieder zu erkennen. Auf dem Tresen: Wasserkocher, zwanzig verschiedene Teesorten. Auf den Tischen keine Aschenbecher, sondern Duftkerzen und Wasserkaraffen. Und wir hatten unsere legendäre Cocktailkarte umgeschrieben. Wie immer drei Drinks. Der „Mahatma Gandhi“: heißes Wasser mit Ingwer versetzt. Der „Uschi-Glas-Special“: alkoholfreies Kristallweizen mit Biozitronenschnitzen. Und „Der Asket des Hauses“: Kanne Brottrunk. Im Hintergrund lief Cat Stevens statt The Clash. Alles ruhig und gelassen. Aber nach einer Stunde wuchtet sich Hansi hoch und brüllt: „Verdammte Scheiße, ihr Idioten, ich lebe noch und will jetzt ein kleines Helles und eine Fluppe.“ Wir haben alle ein bißchen verdattert gekuckt. Der Mann war eigentlich schon durch die Himmelspforte durchgegangen. Leiser Protest regte sich allenthalben. Nur Gitti sagte leise, aber bestimmt: „Leute. Es ist sein Leben. Laßt ihn. Krankheit ist ja nicht gleich Tod. Ich kann das verantworten.“ Erstaunlich was so ein kleines Bier inklusive Nikotinflash mit einem Menschen machen kann, der nicht mehr voll im Training steht. Kurz und knapp: Es tat ihm nicht gut. Ich glaube ja inzwischen Gitti hat das mit Absicht getan. So eine Art letzter Beweis.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Tja so war’n die oiden Rittersleit, sans heit a noch und net so viel g‘scheiter / Fangen wir wieder an zu rauchen 11

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Zell (Allgäu) / Blick von Ruine Eisenberg zur Ruine Hohenfreyberg / 15. Juni 2022

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Die Burgruine Eisenberg gehörte dem Vater. Die Burgruine Hohenfreyberg errichtete der Sohn. Der war wiederum – Es lebe die Binse again! – auf der damals noch nicht Ruine Eisenberg aufgewachsen. Dann wollte der Sohnemann dem herrschsüchtigen Herrn Papa mal zeigen, wo der architektonische Burgenhammer hängt, und lässt auf dem Hügel gegenüber eine neue Burg errichten. Nach dem Vorbild der Staufer. Höher, stärker, standhafter, g’scheiter eh. Was man als Sohnemann so ist. Vermeintlich. Nach dem Vorbild der Staufer? Was daran im 16. Jahrhundert besonders fortschrittlich gewesen sein soll? Nun, manche Menschen glauben heutzutage ja auch immernoch an den guten Kern der Sowjetunion.

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Auch diese zwei Burgen wurden abgefackelt im Rahmen des dreißigjährigen Krieges. Siehe Burg Falkenstein bei Pfronten. Geschliffen wurden sie nicht. Schade denke ich manchmal. Jetzt stehen sie halt blöd oder scheinattraktiv in der Gegend rum und erzählen müde und seltsam sehnsüchtige Geschichten. Mahnmalismen nennt man das wohl. Wären sie geschliffen, müßten sich die Nachkommen zum Disput in den Tälern treffen. Oder gar in den Ebenen, wo die Mühen wohnen. Ohne die alten Scheingewißheiten.

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Gescheiter wie die Rittersleit sammer net g’worn. Aber entschieden unlustiger und unentspannter. Dachten wir so, als wir zwischen den Ruinen hin und her pendelten und versuchten Verse dieses sinnfreien Liedes zusammenzukramen. Wie sprach der berühmteste Ritter der deutschen Dramatik ? „Er möge mich im Arsche lecken!“ Dies heute als ein kleiner Gruß in die Welt. War der Berlichinger ein Vorfahr von Johnny Rotten?

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RAUCHPAUSE / Teil 11

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Gut, ja. Ich hatte öfters auch mal ein Scheißgefühl. Vielleicht sollten wir das Ganze einfach seinlassen. Aber da steckst du nicht drin. Es gibt nun mal Menschen, die neigen zum Extrem. Mittelmaß ist denen ein Fremdwort. Ich fand Rothhändle irgendwann schon – sagen wir mal – heftig. Nicht so Hansi. Schwarzer Krauser. Und Grappa. Konsequenz war sein Stichwort. Du konntest die Uhr stellen. Punkt 12: erstes Bier. „Der Abend bricht jetzt an.“ Punkt 6 Uhr abends: erster Grappa. „Es naht die Nacht.“ Punkt 10 Uhr abends: die Frikadelle. „Der Mensch muß essen.“ Punkt 2 Uhr nachts: „Laß mich in Ruhe. Hatatitla kennt den Weg nach Hause.“ Rausschwanken. Autofahren war ja nicht mehr. Hansi hatte jetzt so ein Fahrrad mit noch oben gebogenem Rennlenker. Er nannte es „Hatatitla“. “Die Gesinnungspolizei hat mir die Strassen weggenommen, aber Hatatila, mein Stahlroß, bleibt treu an meiner Seite.“ Ich hatte immer Schiß, der tritt in jeder Beziehung das Erbe von Charlie an.

Manchmal frage ich mich, friert man eigentlich auch noch, wenn man tot ist? Man hat ja nicht so viel an im Sarg. Nur dieses Hemdchen. Als Junge dachte ich immer, bloß kein Unfall oder so etwas im Winter. Schmerzen und Frieren ist einfach einer zu viel. Im Sommer kann man schon mal mit dem Fahrrad stürzen. Das geht. Aber im Winter. Ne. Allein die Vorstellung, wie das Blut auf der Straße festfriert.

Hansi und die Frauen. War schon immer so. Wir waren mal länger in den USA. Ein bißchen so die Buben auf Jack Kerouacs Spuren. Wir hatten uns gerade einen alten Straßenkreuzer gekauft. Hellblauer Stationwaggon. Verchromte Zierleisten. Haifischflossen. Zwei Zigarettenanzünder. Einer vorne, einer hinten. Vier Aschenbecher. Wir wollten runter nach Mexico. Da liegt plötzlich ein Brief aus der deutschen Heimat im Kasten. „Ankomme in zwei Wochen in N.Y. Flug pipapo. Ich liebe Dich. Deine … Billy, Bulli, Schnulli.“ Der Sack. Verliebt sich kurz vor dem Abflug. Ich hatte damals schon getobt: „Du Hirni, wir sind jetzt 9-10 Monate „on the road“, Pfoten weg, gibt nur Ärger.“ Und jetzt hat der Papi der Kleinen Sommerferien über dem Atlantik spendiert. Langer Rede, kurzer Sinn: 10 Tage nach der unglückseligen Postzustellung sehe ich nur noch das Auspuffrohr von „Easy does it“ – so hieß unser hellblaues Schlachtroß – in der Ferne verschwinden. Ich bin dann 3 Monate lang alleine in der Gegend rumgetrampt. Klasse. Oder ein andermal. Hansi, ich und Gonzo – noch so ein Chaot – hatten eine Jungmännerverabredung getroffen: in 4 Wochen um 12h mittags auf dem Djem nal Fa in Marrakesch bei den Zahndoktoren. Darauf eine Riesentüte und heiliger Schwur. Hansi ist schon vor, ich hatte noch einen Job. Kurz bevor ich loswill, wird meine damalige – recht neue – Freundin „krank“ – also hat gewisse Rauschmittelprobleme nicht mehr ganz so im Griff und mußte in die Klinik. Aber ich: Ein Mann, ein Wort und los. Die Frau, eigentlich schon so eine Art sehr wichtige Frau. Eigentlich total wunderbare großartige wunderschöne extrem wichtige Frau. Gut. Was ist man manchmal für ein dummes Arschloch. Diese Frau jedenfalls schickt herzzerreißende Briefe hinter mir her. Beziehungsweise voraus. Posta restante. Nach Avignon, Malaga, Tanger. Aber Gonzo und ich: der postpubertäre Ponyexpress reitet weiter. Wir hatten uns inzwischen beide in Tanger eine Art Amöbenruhr eingehandelt und standen trotzdem pünktlich um 12 in Marrakesch bei den Zahnklempnern und bewunderten mit schmerzverzerrtem Gesicht die Klempnerwerkzeuge und die zahnlosen Gestalten, die da auf Kundschaft aus der Wüste warteten. Wer nicht da war: Hansi. Beim Postamt hatte er eine Nachricht hinterlassen: „Bin schon mal weiter. Hab jemand kennengelernt. Der Wind ruft mich. Sorry. Hansi“ Ich hätte es damals schon wissen müssen.

Hier. (holt eine Postkarte aus der Tasche) „ich möchte daß meine Liebe stürbe / daß es regnet auf den friedhof / und in die gassen wo ich gehe / jenen beweinend der mich zu lieben glaubte“ Beckett. Diese Karte lag in Malaga. (Hustenanfall, ein paar Tränen) COPD. Was so alles stirbt im Laufe eines Lebens.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Zell (Allgäu) / Blick von Ruine Hohenfreyberg zur Ruine Eisenberg / 15. Juni 2022

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Von der Geduld der Biberburgen und unserer hektischen Erbsendrückerei / Fangen wir wieder an zu rauchen 10

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Das Moor bei Pfronten / Biberdamm / 13. Juni 2022

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Biber sind nicht blöd. Gut, sie müssen mit einem Gebiß leben, welches ihnen bei Heidi Klum wenig Chancen auf ein sogenanntes Foto einräumt. Aber sie sind gescheit. Sie bauen erst ihr Häuschen – man nennt es eine Burg – und dann schichten sie – da kann mal auch mal scheiße aussehen, wenn die Beißerchen ihre ganze Arbeit leisten – einige Meter flußabwärts einen Damm auf. Und warten. Warten deshalb, weil bis das Gewässer seinen Pegel steigen lässt, der Haupteingang der Biberburg so unter Wasser liegen soll. Dann erst ziehen sie ein. Im Biberleben gibt es keine Rabatte, keine Sonderangebote, keine Pfennigfuchserei. Regnet es mehr, zieht man schneller ein. Ansonsten wird gewartet und ein neuer Baum angenagt.

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Meine Frau bekam unlängst eine therapeutische Erbse geschenkt. Aus Plastik. Um die eigene Ungeduld und Unruhe zu bändigen und zu besänftigen, soll man drei Erbsen aus der Hülle drücken. Alles Plastik selbstredend. Das ist gar nicht so einfach. Und soll beruhigen. Man schaut in den Spiegel und denkt: Was soll die Hektik? Drück. Drück mich. Drück dich. Druck. Währenddessen wartet der Biber und nagt vor sich hin. Zeit hat Zeit.

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RAUCHPAUSE / Teil 10

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Ewiges Leben? Narzißmus. Grenzenlose Überschätzung der eigenen Wichtigkeit. Narziß wollte sein eigenes Spiegelbild küssen, ist dann voller Verzückung in den Teich gefallen, der ihn spiegelte und ersoffen. Andere wiederum sagen, ein Blatt sei in den Teich gefallen, hätte das Spiegelbild getrübt. Narziß meinte daraufhin, er sei potthäßlich und entleibte sich. Da kann ich es auch weitertreiben.

Wenn man bedenkt, das ist eigentlich meine Kneipe. Ok. Unsere. Hansis und meine. Unser „Aquarium“. Die einstmals letzte Insel im Meer der Hektik und der Geschwätzigkeit. Der Ruhepol. Das Reservat.

Hansi und ich hatten ein Ritual. Wer inhaliert, der schweigt. Und da mußten andere, auch Frauen, die eventuell neben einem saßen, einfach warten, bis Du wieder sprechen kannst. Und du, du mußtest die Nerven haben, das auszuhalten. Das Schweigen. Gerade eben habe ich zu Hansi noch gesagt: „Weißt Du was? Ich vermisse das Schweigen.“ Die Augen nach oben gedreht hat er daraufhin und den Kopf geschüttelt. Depp.

Du bist echt ein Depp. Ich stehe jetzt hier draußen und rede mit mir selbst. Und rede mich nicht wirklich warm. Und warte. Auf was? Auf was eigentlich? Auf noch so einen traurigen Ritter, der dieselbe Klage singt? Ich würde gern mal mit Helmut Schmidt eine quarzen. Oder mit Loki. (zündet sich mal wieder eine an)

Unser altes „Aquarium“. Gut, das war im Prinzip Hansis Geld. Seine Lieblingstante hatte ihm damals ordentlich was vermacht. Vor etwa 6 Jahren. Ich war gerade frisch geschieden und Hansi hatte ein paar Probleme in seinem Job. Nun gut, wenn Du als Taxifahrer (mit 27 Semestern Erziehungswissenschaften und Linguistik) zweimal innerhalb eines Jahres den Lappen für zwei Monate abgeben mußt – Getränke und so – wird dein Chef irgendwann sauer. Und meine Scheidung wiederum war für mich eine finanzielle Bauchlandung. Ärger gab es also ausreichend in Hansis und meinem Leben. Unser Refugium wurde das „Aquarium“. Wir sind da quasi untergetaucht. Haben geschwiegen. Inhaliert. Uns innerlich feucht gehalten.

Es ist etwas Seltsames mit der Zeit und den Geschlechtern. Wird eine Frau 40, bleibt sie das bis an ihr Lebensende. Ein Mann in derselben Situation mutiert geistig schlagartig zum 20-Jährigen. Er halbiert quasi die Zeit und verfällt in eine Art postpubertäre Starre. Er etabliert ein Paralleluniversum. Dieses ist bestimmt von Ritualen, die gerne auch zur Zwangshandlung mutieren. Zum Beispiel: Aufsagen des gesamten Textes von „Supper`s ready von Genesis. Oder der Aufstellung der Meistermannschaft des HSV von 1982 inclusive Ersatzbank. Exakte Länge der einzelnen Tracks auf „High Voltage“ von AC/DC. Und. Und. Eine permanente Reise zurück in eine glorreiche Zeit, als die Welt noch beseelt war von einem heiligen Ernst. Falls das so war. War schon so.

Eigentlich bescheuert. Hansi und ich, zusammen nun wieder zarte vierzig Jahre jung, im Kokon unserer Vergangenheit klebend. In der Kneipe „Zeitlosigkeit“ und über unseren Köpfen baumelten die an die Decke geworfenen Teebeutel der letzten Jahrzehnte. Sie klebten dort wie unsere abgehangene Trauer und unsere müde Wut.

Eines Tages kippte Charly, der legendäre Gründungsvater des „Aquariums“ und der erste und beste Kunde seiner selbst hinter seinem Tresen um. Und wir haben den Laden übernommen und einen heiligen Schwur geleistet: „Charly, der Kampf geht weiter.“ Charly hatte immer gesagt: „Drei Dinge braucht der Mann: Feuer, Feuchtigkeit und Haltegriffe am Tresen.“ Das war der definitive Minimalismus. War auch das Prinzip der „Karte“. Es gab nämlich keine Karte. Man kann ja fragen. Bier. Ein paar Spirituosen. Sonst nur Wasser und Apfelsaft. Keine braune Imperialistenbrause und kein Zuckerwasser. Sekt gab es nur, wenn eine mit einem Stammgast verbandelte Frau Geburtstag hatte und unbedingt darauf bestand. Einziges Nahrungsmittel: zwischen halb 11 abends und 2 Uhr morgens gab es Frikadellen. Das Brötchen war mit drin. Unsere Cocktailkarte: drei Basics. Der „Keith Richards“: Wodka Orange. Der „Queen Mum“ (für die Mädels): Gin-Fizz. Und die sogenannte „Traditionsperlung“: Asbach mit Apfelsaft. Das hat funktioniert. Die ersten drei Jahre waren ein Traum. Das „Aquarium“ schäumte.  Von Montag bis Samstag. Am Sonntag Ruhetag. Körperlich war das jetzt nicht durchgängig gesund. Aber seelisch durchaus. Reduce to the maximun.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Pfronten / Dorfwirt / Die Therapieerbse / 11. Juni 2022

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All den Quittungen die Stirn bieten / Fangen wir wieder an zu rauchen 09

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Ammoudia / Epiros / Hellas / 16. August 2013

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Ich vergesse immer dieses Fremdwort, welches die Tatsache, daß man Unangenehmes wie eine Bugwelle vor sich herschiebt, kurz und knapp beschreibt. Es klingt jedenfalls ein bisserl wie Prostata. Da wird ja auch festgehalten und nicht losgelassen. Jedenfalls saß ich heute – endlich – an der Steuer. Für einen Selbstständigen, der nicht nur solo, sondern auch verheiratet und die Gunst bescheidener Coronahilfen genießen durfte, eine rechte Freud. Was dieses Foto da oben damit zu tun hat? Nun, ich sortierte die Quittungen (mache ich schon seit Neujahr) der letzten Monate des letzten Jahres. Hamburg. Alkohol. Überdrehte Herzen. Und da mußte ich an Frank Schulz denken und seine Hagener Trilogie. Man muß zu seinen Dämlichkeiten stehen. Leugnen ist da nicht förderlich. Dafür sind manche Dämlichkeiten zu wertvoll. Gewesen. Das Fluchtfahrrad sollte man jedoch nicht zu lange in der Gegend rumstehen lassen. Es wächst sonst zu.

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RAUCHPAUSE / Teil 09

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Ich stehe zurzeit auch unter so einer Art von Trauma. In Sachen Wortwahl. Bin da verunsichert. Unlängst hat mir mein Bewährungshelfer zur Auflage gemacht – er hat da einen eher gesamtheitlichen Ansatz – also: ich darf diese Wörter nicht mehr in den Mund nehmen wie z.B.: (stumm aussprechen: Zigarette, Rauchen, Feuerzeug etc).  Weil schon diese Worte im Rachen- und Gaumenraum, da materialisiert sich irgendwo negative teerhaltige Energie und das sei nicht gut. Ein Jahr auf Bewährung. Ein ganzes Jahr. Das I- Tüpfelchen auf dem Ende einer langen Freundschaft.

Ein ganzes Jahr. Und selber einsperren muß ich mich auch noch täglich. In diese kleinen gelben Quadrate auf den Bahnsteigen. Gelb. Die deutsche Farbe der Kennzeichnung. Hoffe nicht, der Haus- und Hofmaler der Bahn hat sich dabei was gedacht. Das kleine gelbe Quadrat. Da streckt man den Arm raus, schon steht man im Freien. Frei. Freier. Freiheit. Hier. Der kleine private Freiheitscheck bei Google. (noch ein Zettel) Eingegeben habe ich erstmal: „Frei Deutschland“. Trefferquote: 2.270.000 Einträge.  Dann „Freiheit Deutschland“: 2.210.000. Als nächstes – einengen gell – „persönliche Freiheit Deutschland“: sind es noch 1.380.000 Einträge. Es folgt die Spezifizierung auf höherem Level: „individuelle Freiheit Deutschland“ Da haben wir dann weltweit 940.000 Einträge. Unter „nur deutsche Seiten“ bleiben 759.000. Das heißt also vom Ausgangs- und Theoriewert „frei“ bis zur „Freiheit des Einzelnen“ bleibt gerade ein Drittel über. Schon seltsam.

Und hier draußen stehen jetzt die frierend Freien. Und mein bester Freund – Gitti sagte immer: „Warum heiratet ihr eigentlich nicht endlich mal?“ – steht drinnen. Ich frei unter Bewährung. Er drinnen eingesperrt. Aber warm. Schon absurd.

Andererseits, wir vom NRSG Verfolgten haben noch die Möglichkeit existentiell wesentliche Freiheits- und Anarchieerfahrungen zu machen. Einfach und genußvoll über diese gelbe Linie eine Qualmwolke rauspusten. Oder den Stick in die „Gute Zone“ raushalten. Oder den linken Fuß über die Linie stellen. Oder auf die gelbe Linie aschen. Stellt sich dann wie beim Tennis die Frage: „Ist Linie noch drin oder schon draußen?“ Kannste durchdrehen wie Mastermind of Emotion John Mc Enroe früher: „He you fucking, cuntlicking son of a bitch, you stupid asshole. Fucking train man. The ash was fucking in. Can you dig it? Bring me the lineman to take a second look at it, you bastard.” Das hat gutgetan. Gelle. Diesen Anarchiekick haben die anderen ja nur beim Bescheißen bei der Steuer oder beim Rechtsüberholen auf der Autobahn. Und wie die Anderen immer auf den Bahnsteigen um diese Quadrate rumschleichen. Wo es doch so ungesund ist. Entweder machen die jetzt alle eine Blockwartgrundausbildung und wollen so erste Fahndungserfolge melden. Oder es ist die berühmte Annäherungs – bzw Vermeidungstrategie. Schon auf dem Schulhof waren wir doch ständig neidvoll umringt von den „Gesunden“. Wir hatten das Gift. Alle Sorten. Und die hübschen Mädels und die Gitarren und die Schlagzeuge. Eric Clapton, den Stick oben am Hals in den Saiten gesteckt. „In a white room with black curtains near the station.“ Manchmal denke ich die gesunden Danebensteher die rächen sich jetzt an uns. Jetzt, Jahre später, ist die Stunde der Abrechnung gekommen. Während wir uns nach Leibes- und Lungenkräften dem kreativen Ruin hingegeben haben, haben die viel Zeit und Geld gespart, haben Karriere gemacht, sind fit und ausgeschlafen, können sich inzwischen die Band, in der sie nie mitspielen durften, mieten und lassen sie auf ihrem Fünfzigsten rocken. Und uns sperren sie zur Strafe in kleine gelbe Vierecke.

Und im Frühjahr, wenn der Schnee wegtaut, stehen in diesen kleinen gelben Vierecken lauter erfrorene eingetrocknete Statuen. Mir hängt dann ein Schild um den Hals: „Gestiftet von Gitti und Hansi.“ Ich übertreibe jetzt. Ja. Aber ein bißchen Selbstmitleid braucht der Mensch. (neuer Hustenanfall)

COPD. Macht einsam auf Dauer. Meine letzte Freundin, die ist gegangen. Nicht etwa, weil ich und meine Klamotten und meine Wohnung nach Gift stinken, sondern weil ich nach jedem Akt COPD – Anfälle habe. Sie nahm das persönlich. Verstehe ich ja. Aber: Gestorben werden muß. Nicht rumlamentieren wie Hölderlin: „Weh mir, wo nehm‘ ich, wenn/ es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein, / und Schatten der Erde?“  Was soll das? Ich fang noch mal ganz neu an, im Herbst. Da kannst Du gleich die ganzen Blätter aufsammeln und versuchen sie wieder an die Bäume zu kleben. Vergiß es. Herbst ist Herbst.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Reutte / Tirol / Österreich / 13. Juni 2022

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Erfolgreiche Ernte und Übertrittszeiten / Von Charon und so dem Acheron / Fangen wir wieder an zu rauchen 08

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Vilstal / noch Österreich / Gott sei Dank tagsüber / 14. Juni 2022

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Vor ein paar Tagen las ich von einer Frau, die folgendes nach dem Tod des Sohnes zu ihrem Mann sprach:

„Wir werden immer immer immer traurig sein, IMMER!

Aber bitte: Laß uns nicht immer immer immer unglücklich sein.

Das dürfen wir nicht!“

Besser, dachte ich, kommst Du kaum aus einer Begegnung mit vermeintlich endgültigen Verlusten oder tatsächlich endgültigen Verlusten nicht raus.

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Dann dachte ich an Charon und an den Acheron, den wir vor bald zehn Jahren hochwateten. Eiskaltes Gewässer. Viel Überwindung. Aber eine Schlucht von grandioser Schönheit, welche jedoch geradewegs in Richtung Pforte Unterwelt führte. So einen Kilometer vor der Höllenpforte stand mir das eiskalte Wasser bis zum Hals. Wir kehren um und hatten den Rest des Tages gut durchblutete Leiber. In Ammoudia setzten wir uns an das Ufer des ins ionische Meer mündenden Flußes und tranken ein Üzelchen. Einen vor dem Speisen. Einen danach. Geburt und Ernte. Yamas! Zu seinen Ehren.

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Man muß die Ernte einbringen gewiß! Irgendwann! Wie reichhaltig diese dann sein wird? Es entscheiden andere! Nicht ich!

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RAUCHPAUSE / Teil 08

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Wie gesagt. Daumen und Zeigefinger. Den letzten Krümel reinziehen. Not und Genuß in einer Haltung vereint. Joints zieht man sich komischerweise immer noch so rein. Obersuperaffig waren schon immer diese Mittelfinger – Ringfingerkonsumenten. „Es war schon immer etwas teurer einen besonderen Geschmack zu haben: Attica.“: Attica. Ernte 23. Kurmark. Chesterfield. HB. Astor. Eckstein. Juno. Overstolz. Reval. Players Special. Lux. Kent. Peter Stuyvesant. Krone. Meine Sorte. Peer Export. Rothhändle. Salem Nr.6. Club. Karo. Ducados. Gitanes. Austria. Memphis. Muratti Ambassador. Parisienne. Karelia. MS. Neapel sehen und sterben. Neapel. In Neapel ist seit kurzem auch der Abusus von Stäbchen unter freiem Himmel verboten. In Parks mußt du das Stäbchen ausdrücken, wenn Neugeborene, Kinder unter 12 und Schwangere in der Nähe sind. Sonst kostet das bis zu 500€ Strafe. Also ich sehe ja auf zwei Kilometer sofort, ob eine Frau im zweiten Monat schwanger ist oder nicht. Und ich sehe auch, ob sie vielleicht noch abtreiben will. Vielleicht. Darf man dann das Ding brennen lassen? Oder muß man fragen? „Entschuldigung, Sie sehen so glücklich aus. Junge oder Mädchen?“  (zieht einen neuen Zettel aus der Tasche) Hier!

 „Eltern rauchen häufiger als Leute, die keine Eltern sind. Besonders häufig rauchen junge Eltern. Junge Mütter (25 bis 29 Jahre alt) mit Kindern unter sechs Jahren rauchen zu 50%. Was das Rauchen im Haushalt betrifft, müssen die Väter mit einbezogen werden. So gerechnet sind 60 Prozent aller Haushalte mit Kindern unter sechs Jahren nicht rauchfrei. In der unteren sozialen Schicht wird sogar in drei von vier Haushalten mit Kindern unter sechs Jahren geraucht.“

Was schlußfolgern wir daraus? Kinder sind gefährlich. Kinder gefährden nicht nur den Seelenfrieden, sondern ganz massiv und direkt ihre, unser aller Gesundheit. Ich merke das überall. Die Bahn hat ja kürzlich alle Giftabteile geschlossen. Schade: Diese Abteile waren selbst für Nichtgiftler so eine Art Rückzugsgebiet. Man fand dort Schutz vor den aufgedrehten Gören alleinreisender und wahrscheinlich auch alleinerziehender Mütter. Jetzt sind sie überall: Quäkend, frühreif, altklug, hyperaktiv. 4 Jahre alt und schon den I-pod in den Ohren. Lesen? Arbeiten? Aus dem Fenster gucken? Kannst Du alles vergessen. Und das Beste: die gestreßten Mamis rennen wahrscheinlich ständig aufs Klo, um sich dort eine reinzuziehen. Laut Statistik. Aber der Schaffner hat Dich als Täter im Verdacht. Schaut Dich ständig schief an, weil Du seit 150 Kilometer aussiehst, als stündest Du kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Also: Kinder machen krank. Aber wie bringen wir jetzt Neapel und diese Sache mit den jungen Müttern unter einen Hut. Man schützt, wo man geht und steht das werdende Leben und dann 9 bis 12 Monate später, spätestens nach dem Abstillen, steht Mami mit der Fluppe in der Hand am Kinderwagen: „Gutschigutschi – goo, wo ist denn mein kleiner Hosenscheißer?“ Gut, Frauen und Konsequenz, heikles Thema, ich weiß. Und die Frau ist da auch komplett unschuldig. Es ist wahrscheinlich wieder ein Mann. Z.B. Keith Richards. Ich könnte mir vorstellen, diese Frauen haben in der Schwangerschaft zu viel „Rolling Stones“ gehört. Unterschätzen sie das nicht. Der Keith haut sich seit 45 Jahren zwei Päckchen Gift am Tag rein, verdünnt das mit einer Flasche Wodka und der ein oder anderen Spritze.  Und das ist in der Musik drin. Das hört man, das spürt man und das hat seine Auswirkungen. Wie bei Hypnose. „I can`t get no satisfaction.“ Aah, noch eine. „And i try and i try.“ Tief einatmen. Also: sich von allem fernhalten, was das Gift oder die Materialisation giftiger Gedanken enthält. Da kommt schon was zusammen. Hier: (zieht eine Liste aus der Tasche) Albert Einstein, Marylin Monroe, Willy Brandt, Miles Davis, Bette Davis, Tom Waits, Marcello Mastroianni,  Romy Schneider, Andy Warhol, Groucho Marx, Fidel Castro, Che Guevara, Bob Dylan, Jean Paul Belmondo, Alain Delon, Truman Capote, Paul Auster, T.C.Boyle, Winston Churchill, John Lennon, Sean Connery, Jean Genet, Jean Gabin, Jean Cocteau, Jack Kerouac, Paul Bowles, Yves Saint Laurent, Coco Chanel, Jack Nicholson, J.F. Kennedy, Orson Welles, Pablo Picasso, Sophia Loren, James Dean, Helmut und Loki Schmidt, Helmut Kohl, Yves Montand, Clint Eastwood, Humphrey Bogart,  Oscar Wilde, Roland Topor, David Bowie, Ian Fleming, Marlene Dietrich, Jean Luc Godard, Madonna, Dean Martin, Sammy Davis jr. , Frank Sinatra, Alfred Hitchcock, John Wayne, John Travolta, Sigmund Freud, Virginia Woolf, Woody Allen, Brad Pitt, Robbie Williams, Hape Kerkeling und.. an alle werdenden Mütter noch mal: Keith Richards. Beschäftigen wir uns um Gottes Willen mit den Werken gesundlebender Menschen: Mogli, Das Urmel aus dem Eis, Wolfgang Schäuble, Bully Herbig, Tom Cruise, Nina Ruge, Uschi Glas, Eva Herman, Rudolf Heß, General Franco, Erich Honecker, George W. Bush, Adolf Hitler. (lange Pause) Aua, aua, aua. Entschuldigung. Nein, das wollte ich nicht. Scheiße, jetzt ist es mir auch passiert. Der unselige Vergleich.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Vilstal / nicht mehr Österreich / hinten die Zugspitze / 14. Juni 2022

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Hoch und runter bleiben wir munter und scherzen so mit den Schmerzen / Fangen wir wieder an zu rauchen 07

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Zirbe auf dem Zirmgrat / 14. Juni 2022

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Einst fuhr ich gerne mit der Bergbahn nach oben und rannte dem Hügel den Rücken hinab. Als gäbe es kein Unten. Jetzt schiebe ich mich keuchend die Berge hinauf, belohne mich – Es lebe die Binse! – mit einem Höhenerlebnis und quäle mich schlackernden Knies ins Tal. Hilf ja nix. Runter muß man immer. Wenn es auch nur von den Illusionen ist. Die Wenigstens werden auf den Gipfeln bestattet. Die Särge werden in den Tälern verkauft. Aber runter schaun von der Höh‘: Schee isses immer noch und wieder. Und drunten reißt Du Dir die Klamotten von Leib und haust Dich in den kalten Bergbach. Nachert kannst Du wieder auffi. Vielleicht. Einmal noch.

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RAUCHPAUSE / Teil 07

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Schritt eins: Kennzeichnungspflicht. Ich bin bereit mir von der Bundesgesundheitsbehörde ein großes „R“ auf den Ärmel nähen zu lassen. Ich will jedem „NR“ die Möglichkeit geben, wenn er mich sieht, die Straßenseite zu wechseln. Aber dann andere auch. Zum Beispiel: GT: Gelegenheitstrinker. Oder auch WT: Wochenendtrinker. WKT: Wochenendkomatrinker.  WKTMHZR:  Wochenendkomatrinker mit Hang zu Randale. IJ:  Internetjunkie. W(BU): Workoholic (beziehungsunfähig). MM – manischer Masturbateur. SS – Shopping und Spiele. IBN – Ich bremse nicht. RMS – Radfahrer mit Sendungsbewußtsein.

Überhaupt: Radfahrer. Auch eine sehr interessante Entwicklung. Wer ist vor zwanzig Jahren Rad gefahren? Holländer. Chinesen. Eddy Merckx. Kinder zur Schule. Fertig. Und dann so Anfang der Achtziger? Aus allen Ecken rollte er hervor: Der Radfahrer. Aber jetzt nicht, um eine Entfernung Geld sparend und die Gesundheit fördernd zu überwinden. Nein: Radfahren als Botschaft, Radfahren als Geste, als Ausdruck und Manifestation von moralischer Überlegenheit. „Ich arbeite hart an mir und der Verbesserung der ganzen Welt. Jeder meiner Tage ist Kampf und Beweis.“ Und es gab plötzlich ein klar definiertes Feindbild: den Autofahrer. 4 Räder: Böse. Böse. Böse. 2 Räder: Gut. Gut. Gut. Die moralische Überlegenheit. Dadurch genießt man gewisse Vorrechte. Rechtsverkehr, Linksverkehr, egal. Du darfst überall fahren. Fahrbahn. Radweg. Gehweg. Fußgängerzone. Ein Botschafter muß die Möglichkeit haben, überall all zu missionieren und Präsenz zu zeigen. Ampeln? Leuchttürme des Bösen. Lobbysäulen der Autoindustrie. Klingel? Nicht notwendig. Nur der verhärmte, spießige, unsensible Mensch spürt nicht, daß sich auf dem Wanderweg von hinten ein Missionar mit 25-45 km/h nähert. Bei Dunkelheit Licht anmachen? Die Strahlkraft des guten Willens per se erleuchtet den Pfad des Gerechten. Hieß ja früher auch immer der Pedalritter. Vielleicht kann man ja jetzt den Rittern eine zusätzliche Aufgabe anbieten. Die dürfen jetzt überall herumfahren, Fußgängerzone, Gehweg, Rasenflächen, in Kneipen. Und immer, wenn die jemand sehen, der es noch macht, so von hinten vorbeifahren und – zack – kurz mal in die Rippen treten – nur als kleine Erinnerung, kleines moralisches Fingerzeichen. „Hallo! Du bist ein Sünder!“

Schritt zwei: Der Pranger. Der gute alte Schandpfahl: „Ja, ich habe gesündigt, habe meine Arterien verstopft, erektile Dysfunktion provoziert, Benzol, Nitrosamine, Formaldehyd und Blausäure in die frische Luft gepustet, ungeborenes Leben bedroht. Ja. Gebt mir Tiernamen. Werft Steine nach mir. Spuckt mich an. Laßt mich Eure Voodoopuppe sein. Ich bin ein schlechter Mensch. Spuck mich an.“ (auf die Knie) Spucken Sie mich an. Jetzt hier. Stellvertretend für alle, die es tun. Noch immer tun.  (aufstehen) Traut sich wieder keiner von den Moralisten. Aber mich in die Kälte stellen und mich dazu zwingen lange Unterhosen anzuziehen. Wissen Sie überhaupt, was für eine fatale tiefenpsychologische Komponente da mit ins Spiel kommt? Lange Unterhosen? Kindheitstraumata. Übermächtige Mütter zwingen dich in eine wollene lange Unterhose. Schleifen Dich raus zum Sonntagsspaziergang und Du verpaßt die neueste Folge von Bonanza. Fragt sich jetzt noch einer, warum ich suchtkrank geworden bin? Und jetzt bin ich quasi in einem Akt der Regression gezwungen mir die langen Unterhosen selbst anzuziehen. Ich bin meine eigene Mutter. Das ist schlimmer als jede Sucht. Und während ich die lange Unterhose anziehe, ruft sie mir mit Bert Brecht zu: „Darum sag ich: laß es / Sieh den grauen Rauch/ der in immer kältre Kälten geht: so/ gehst du auch.“ Aber was weiß meine lange Unterhose vom nucleus accumbens? Der Kernstruktur im basalen Vorderhirn. Dopamin ist das Stichwort. Ich habe mich mit meiner Sucht auseinandergesetzt. (wedelt mit seinen Zeitungsartikeln, Ausdrucken von Internetseiten, Statistiken und ähnlichen Krempel) Zum Mitschreiben für meine lange Unterhose: In diesem sogenannten nucleus accumbens wohnt praktisch das interne Selbstbelohnungssystem. Das braucht man, weil jeder Mensch wohl schon früh begreift, daß man sich nur auf sich selber verlassen kann und Undank der Welten Lohn ist. Selbstgratifikation sagt der Fachmann dazu. Beispiel: „Stairway to heaven“läuft: „and she`s buying…oh ich komme…a stairway… ich auch… to heaven.“ Und dann? Schön eine drehen. Van nelle halfsware. Die Rache des Niederländers an der deutschen Lunge. Und dann vielleicht sogar: Der Moment des höchsten Glückes. Sie sagt: “Du, darf ich mal ziehen?” Seufzer. Großer Seufzer. Riesenseufzer. Oder am Tresen: „Hast Du mal Feuer?“ Du drehst dich in Richtung der fragenden Stimme um und am anderen Ende des Stäbchens Lippen, welche in ein Gesicht übergehen, von dem Du weißt: „Dies wird meine Zukunft sein“. Das Stäbchen glimmt. Deine Stimme versagt. Der nucleus accumbens ruft: „Junge, zünde Dir eine an.“ Die Hand zur Stimme reicht Dir – Du wolltest dein Stäbchen gerade an der Tropfkerze auf der Chiantibastflasche anzünden – reicht Dir ihr Stäbchen mit den Worten: „Nicht. Sonst stirbt ein Seemann.“ Die zwei Stäbchen berühren sich, entzünden sich aneinander. Augen zu, Inhalation, Augen auf. Sie ist weg. Aber vor Dir liegt das Streichholzheftchen mit ihrer Telefonnummer. Lilafarben hingekritzelt, fünfstellig. Höchstens. Festnetz! Oh ja. Dieser Abend braucht das zweite Päckchen. Ich könnte heulen. Wo ist das Leben im Jetzt?

Immer dieses Früher, früher, früher! Wo bist Du Hansi? Jetzt? Hier? Wahrscheinlich ist das so ein Fluch. Wir, die es noch tun, leben in der Vergangenheit. Und es gibt keine Tür mehr in die Gegenwart. Außer den Verzicht. Vielleicht muß man das, was uns quält ausrotten. Gnadenlos. (drückt die letzte Kippe aus, zündet sich eine neue an) Ich weiß es nicht. Was wollte ich?  Bekämpfen aller Abhängigkeiten. Weiter im Katalog.

Schritt drei: Lückenlose Überwachung und Erfassung. Man könnte alle Monitore von Laptops und PCs mit Webcams die mit heimlich integrierten Rauchmeldern versehen sind ausstatten. Oder man baut Feuerzeuge mit elektronischen Zündern, welche bei jedem Zündvorgang sofort ein Erkennungssignal an die Krankenkassen senden. Zack, wird der Beitrag erhöht. Und reden Sie sich nicht blöd raus. Von wegen ich hab nur eine Kerze angezündet oder so. Nichts. Da herrscht Beweispflicht. Das müssen Sie halt mit einem Handyfoto dokumentieren. Oder noch besser: in die Filter von den Dingern kleine Einmal-Videocams einbauen, die das Gesicht des Sünders erfassen und sofort weiterleiten. Und in jedem 10ten Stäbchen ist keine Kamera, sondern ein selbstauslösendes Blasrohr mit einem Betäubungspfeil eingespeist. Treffer. So kann man den Betäubten direkt zum Zwangsentzug oder zum Sozialdienst abtransportieren. Z.B. Kippen aufsammeln, Decken streichen in Restaurants, Giftpackungen mit Horrorbildchen von amputierten Gliedmaßen bekleben, alle amerikanischen Filme der letzten 50 Jahre anschauen und dann notieren, in welchen Menschen zu sehen sind, die es tun. Und aus diesen Filmen werden dann die Sticks rausretuschiert. Man fragt sich dann zwar, warum sich die Schauspieler ständig ins Gesicht langen. Oder man schneidet alle Szenen raus, in denen es dampft. „Casablanca“ dauert dann wahrscheinlich nur noch 3 Minuten.

Und natürlich: Schritt 4: Von den USA lernen, heißt siegen lernen. In den USA herrscht Inhalierverbot sogar in den Gefängnissen. Da laufen die Todeskandidaten und Lebenslänglichen rum und dürfen nicht mal mehr quarzen. Ist das jetzt gut gemeint oder eine ganz perfide neue Art von Folter? Kriegt Amnesty International so was mit? Und was ist mit dem letzten Wunsch vor dem elektrischen Stuhl? „Ich hätte gern noch ein Tofuschnitzel und einen Brennesseltee.“ Und warum das Ganze? Die Amis haben einfach nur ein schlechtes Gewissen. Wie immer. Setzen was in die Welt und dann verlieren sie die Kontrolle. „Das machen wir schon, ein Kinderspiel. Haben wir im Griff.“ Ja: Vietnam, Kabul, Bagdad, und und und. Was das mit den Stäbchen zu tun hat? Ja, wo kommt der ganze Scheiß denn her? Aus Amerika. Kolumbus. Der hat das Zeugs mitgebracht. Kartoffeln, Mais und den Stoff. Früher da sind ein paar Inkas oder Apachen oder Irokesen einmal im Monat bei Vollmond im Kreis gehockt, haben das Zeugs angezündet, paar Zehnägel und Bisonhaare reingeschnippelt und den großen Quetzalcoatl oder den Manitu angerufen. Heilig, heilig. Das war praktisch wie Weihrauch schwenken bei den Katholiken. Ritual. Religion. „Schnitt schnitt. Misch misch. Paff paff. So jetzt sind wir Blutsbrüder.“ Selbst mein Opa, der hat noch Pfeife gepafft und unser Nachbar, der alte Kühn saß immer auf seiner Gartenbank mit einem fetten Stumpem im Gesicht. Das hat zwar gestunken wie Sau, war aber im Prinzip indianische Meditation. Und wer hat jetzt dann diese hektische Reinzieherei erfunden? Marlboro, Camel, Winston, Lucky Strike? Amis! „Hello schone Fraulein, you beautiful, want my marlboro und so.“ Ich weiß nicht, ob sich jemand erinnert. Fingerhaltung wäre jetzt das Thema. Klassische Zeigefinger – Mittelfinger – Haltung. Nein, das ist nicht das Original. Diese Haltung wurde mit Einführung des Filterstäbchens auf die Welt gebracht. Sollte wahrscheinlich cool aussehen. Das Original sieht so aus. Daumen – Zeigefinger. Die Sparhaltung. Das Ding bis zum letzten Krümel reinziehen. Unten im Schacht. Draußen auf dem Acker. Im Schützengraben.

„Es steht ein Soldat am Wolgastrand. Hält Wache für sein Vaterland.“ Muß oft an meinen Vater denken. Wenn der draußen auf dem Balkon stand, um sich eine reinzuziehen, hatte ich immer das Gefühl, der hält Wache. Im Januar. Im Unterhemd. Feinripp. Und wartet auf einen Feind, den nur er kennt.

Da fällt mir ein: Die sollen mal den Soldaten, die in Bagdad, Basra und Kabul unsere Heizkostenabrechnung verteidigen, die Fluppen – welche die übrigens umsonst kriegen – wegnehmen. Sollen Sie mal versuchen. Das würde mich interessieren, was dann passiert.

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(Gießen / Spätherbst 2009 / to be fortgesetzt)

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Vilstal / noch in Österreich / rechterhand die Vils / kalt /14. Juni 2022

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