Der Liegestuhl / Die Apokalyptiker / Das Böse / Drei Varianten des Naiven

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Ausgang Schloß Friedenstein Gotha / 7. Oktober 2021

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„Schaaatz! Hatten wir mal dieses Problem? Noch oder gerne wieder? Beim Blick aus dem Fenster sehen wir unseren Liegestuhl belegt. Englische Handtücher. Nein. Es waren doch die Holländer. Es ist Fünf Uhr Fünfundfünfzig. Sehr früh. Also beim Blick aus dem Fenster. So nicht. Nein. So nicht. Ich war nur mal vorsorglich wach. Man kennt sie ja. Die Engländer. Die Holländer desgleichen. Verstopfen unsere Autobahnen. So war es doch. Schon immer. Doch. Genau. In den gemütlichen Tagen. Warum sagte mir keiner, daß die Ferienanlage vor Jahren von Roman Abramowitsch gekauft wurde? Ich habe da ja auch grundsätzlich nichts dagegen. Mein Junior steht auf Kai Havertz. Und ich finde immer noch, daß man Thomas Tuchel nicht nach Paris hätte ziehen lassen sollen. Ach so, das waren Scheichs? Man blickt ja auch gar nicht mehr durch. Jetzt sehe ich jedenfalls keine Liegestühle mehr vor dem Fenster. Komisch. Schaaatz, wo ist denn der ALDI – Prospekt für nächste Woche? Es gibt da doch preiswerte Liegestühle im Angebot. Wetterfest und so. Muß man sich mal vorstellen. Handtuchkrieg hieß das früher. Schon witzig unsere Welt. Schaaatz! Ich bestell mal die Liegestühle! Okay? Was? Die werden in der Ukraine hergestellt?“

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„Der Turm stürzt ein? Nachrüstung und Doppelbeschluß? Was soll der ganze NATO – Stuß? Was soll das ganze Apokalyptikergejammer? Das sag ich. Immer schon. Wir haben doch gewonnen. Der Iwan hat den Schwanz eingezogen. Wandel durch Handel. Sagte ich doch schon immer. Die haben wir verwandelt. Und in die Vergangenheit gehandelt. Nimm dem modernen Iwan – ok, der in Moskau halt – seinen BIG MAC weg und er kotzt. Der Rest soll halt seinen Wodka saufen. Und Borscht zu kochen dauert mir eh zu lange. Wo war ich stehen geblieben? Ok. Scheißwitz. Aber die Mäuse aus Moskau und Kiew? Das sind halt noch Frauen. Tschulligung! Wir sehen uns auf Zypern. Hey. Leute. Da scheint die Sonne. Da iss warm. Da schmecken die Drinks. Steckt Euch Eure Weltuntergangsversionen irgendwo …? Wohin nochmal? Rein halt! Wohin müßt ihr doch selbst wissen. Die Welt iss halt so! Hart wie meine Morgenlatte! Entschuldigung! Ich muß da mal ran. Nee, nicht an die Maus. Ans Telefon. Was? Die Ferienanlage stürzt ein?“

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„Hallo? Klar. Der Mann ist böse. Nicht der Mann an sich. Aber der Jabba The Hutt aus dem Kreml. Echt. Das ist das Böse. Also der. Wieso ich seine Telefonnummer noch? Hey Alter, komm mir nicht blöd. Du kannst mir gerne den Preisnachlaß für Deine Scheißheizung, den ich in den letzten zwanzig Jahren für Dich rausgehandelt habe, auf mein gesperrtes Konto überweisen. Ok. Lösch ich jetzt die Nummer. Weil mit dem Bösen an sich hab ich nichts zu tun. Wenn ich bescheiß, dann korrekt. Alles mit Verträgen. Ich bezahle meine Rechtsanwälte. Tschulligung. Hallo! Schaaatz, wenn Du die Hände faltest, mußt du auch die Augen schließen. Kommt besser rüber. Wo waren wir stehen … Nee … von mir nicht. Dieser Witz. Der Gute sein ist gar nicht so einfach. Den Bösen züchten muß man erstmal. So als Gegenthese. Macht echt Arbeit. Und das Ergebnis ist auch nicht in Stein gemeiselt. Die einen sagen so. Die Anderen. Na ja! Ich habe das doch auch schon immer gewußt. Der Mann ist böse. Und? Zeig mir doch mal Deine Kontoauszüge! Eben! Ich kaufe Dir nicht nur die Handtücher, sondern die gesamte Ferienanlage. Und reservier mir einen Liegestuhl. Tschüssi!“

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Komm Herr Jesus

Sei unser Gast

Und segne

Was Du uns

(Man räuspert sich da oben am Kreuz und spricht: “ Don Camillo! Das kannst Du besser!“)

Tschulligung!

Herr, manchmal bin ich unaufmerksam!

(Noch ein Einwand: „Du meinst ein Mensch, mein Lieber! Gelle!“)

Komm Herr Jesus

Und sei unser Gast

Und segne

Was wir uns

In den Teller

Eingebrockt

Und erlöse uns von …

(Vom Kreuz herab: „Schaun mer mal!“)

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Durch diese hohle Gasse muß er kommen! Knalle ihn ab, Wilhelm!

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Grenzgebiet zwischen Litauen und der Oblast Kaliningrad (Russland) / 23. Juli 2011

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Erst roch es nach Krieg

Ich schliff mein Schwert zur Gabel

Die Suppe einzubrocken

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Es zog ein der Krieg

Ich schliff die Gabel zum Schwert

Suppen auslöffeln

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In unserem Krieg

Gibt es nur Kränze die

Wir – ach klage nicht

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Am Sonntag telefonierte ich mit einem meiner ältesten Freunde. Ich wollte ihm mitteilen, daß ich seit etwas mehr als einer Woche wieder beidhändig bin und sogar schon – Gruß gen HH mit Dank – Gitarren sinnstiftend anfassen kann. „Dann kannst Du ja jetzt Putin erwürgen!“ Seine Antwort, unser gemeinsamer Humor. Ich dachte an meinen Deutschlehrer, den gescheiten Herrn L. und wie er uns dringend davon abriet Staufenbergers und Weizenäcker als Kohorten des tatsächlichen Widerstandes zu begreifen. „Meine Damen und Herren, diese Herren erheben sich gerne anstelle des Kalifen oder wenn die Messe gelesen!“ (obiges aus der Erinnerung zitiert!) „Und beschäftigen Sie sich mit Georg Elser!“ Und dann lasen wir den Tell und ich schnitzte mir eine Armbrust. Ein Jahr später erwählte ich mir den ausgerufenen „Freiheitskämpfer“ Mao Tse Tung (so geschrieben als Peking noch nicht grammatisch einfühlsam gesprochen wurde) als Vorbild. Traurig, aber wahr. Wenn einer endlich den kleinen dicken Vixer P. abserviert, ist es wohl einer aus dem inneren Zirkel. Begrabe Deine romantischen Anfälle an der Krümmung der Gasleitung. Und: Freunde des unreflektierten Gekickes! Lieber Franz und Lichtgestalt! Freuen wir uns auf Katar im Winter! Zu Gast bei Freunden!

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Ach was ein vorsichtiges und vorsorgliches Land, in dem ich lebe. Da gehe ich als 65-Jähriger in die Apotheke und will mir kaufen die etwa hunderttausendste Packung Schmerztabletten meines Lebens. Nach all den ungezählten Katern, Erkältungen, Rückenschmerzen. Die junge PTA: „Sie wissen, wie man mit diesem Medikament umgeht?“ Die grauen Falten unter meinen müden Augen bemühen sich nicht zu zucken und meine Lippen zerbeißen eine Unflätigkeit. Mit Schwung rollt heran das Gefährt des Gefährten der Fürsorglichen. Ab nach Hause in die Vorstädte. „Gib Gas! Hab Spaß! Hier geht noch 180 km / h!“ Noch ein halbes Jahr bis zum nächsten Pulli. The Heat is on. Und dann schaun mer mal. Weiter.

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Ihr Vater habe immer gesagt, wenn man freundlich sei zu den Menschen, seien diese auch freundlich zu Dir. Sie grinste mich an. Das sei doch so. Ich nickte, weil ich sie mochte. Warum, das wagte ich nicht zu sagen, haben wir vergessen uns zu wehren und beten Tag und Nacht – wahrscheinlich noch nicht mal dies, wir setzen es einfach voraus -, daß der Krug in unseren Fingern zerbricht, ohne uns zu schneiden? Eine Woche Leid ertragen und dann ist aber auch gut? Ich habe doch gespendet. Nein. Die Ruh‘ ist hin, wenn sie hin ist.

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Wird schon werden Welt

Will ich rufen über den

Tisch der zwischen uns

Schweigt nicht abgeräumt

Noch nicht gedeckt wieder

Bleib sitzen

Zeit

Die wir nicht haben

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„Den lauten Bildern keine Macht mehr über dich erlauben!“, rief der Maulwurf noch und fiel sogleich in Ohnmacht

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Ehemaliger Grenzstreifen VR Polen – DDR / Insel Usedom / 10. August 2012

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Welch fürchterliche Enttäuschung! Ich hatte mich streng chronologisch und der fürchterlichen Versuchung standhaltend vorzublättern – jeder wußte und erzählte dem jungen und aufgeregten Buchstabenfresser, daß der edle Häuptling der Apachen im dritten Teil der Geschichte in die Ewigen Jagdgründe einziehen mußte – bis an die Stelle gelesen, wo es geschah. Das Wissen und die bange Erwartung, jedoch auch eine seltsame Gier darauf vom angekündigten Tod endlich zu lesen und zu erfahren, ach, zu erleiden, was dies mit der solidarischen Seele des Buben anstellen sollte, wühlte ich mich, mehrmals zurückblätternd, durch die Seiten und verfluchte unter Tränen den tödlichen Pfeil eines Oglalas, quasi einem Schalker unter den Rothäuten und schwor Rache, Rache für den, der vor meinem Leseauge gegangen war. Hingestreckt lag er, dreckverschmiert, mit gebrochenen Knochen und die Siedler, zu deren Rettung er beigetragen hatte, sangen seiner Leiche ein Ave Maria. Warum der Apache denn Christ sein wollte, nun begriffen habe ich es nicht, aber geweint trotzdem. Obwohl er mir mehrfach angekündigt war dieser Tod, auch von des Vaters dräuender Stimme („Da mach Dich mal auf was gefasst!“), es traf mich wie ein unerwarteter Hieb. Später sollte ich solchen süßbitteren Schmerz nurmehr schmecken müssen, wenn ein geliebtes Wesen sich davon machte. So eine Art von prägender Einstiegserfahrung in Sachen Abschiede.

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Schnell lesen mußte ich den langen Rest des Buches  – es zog sich doch recht mürbe dahin nach dem Tod des Häuptlings – und die Wangen mußten ja ebenso trocknen, hingen doch schon in den Schaukästen meiner Geburtsstadt Plakate, welche die Verfilmung des dritten Teils ankündigten. Und dann diese Enttäuschung! Da oben auf der Leinwand. Mit unzerzauster Perücke, im reinen Kostüm, das dezent eingeblutet, blickt der mir nicht unsympathische Franzose und Darsteller in die Ferne, der Brustkorb hob und senkte sich theatralisch den Ewigen Jagdgründen entgegen, kitschige Musik schwappte ins Auditorium, strahlende Sonne und ein sentimentales Glockengebimmel versuchten an meinem Tränensäckel rumzuquetschen. Nein. Ohne mich. Der Tod, den ich gelesen, war düster gewesen, nächtlich, blutig, röchelnd, neblig, schorfig, erdverschmiert, rauh, laut und jäh verstummend im pubertären Entsetzen. Da fiel keiner im formvollendeten Stunt die kroatischen Felsen hinab. Nein. Es brachen und splitterten die Knochen. Es schrien die Geister. Und jetzt dies hier. Ich begann den fremden, allzusehr auf Wirkung und Versöhnung schielenden Bildern zu mißtrauen und entschied mich früh der Leinwand vor meinem inneren Auge die Erstaufführungsrechte in Sachen Phantasie (dem absoluten Gegenteil von Fantasy) einzuräumen.

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Mein Vater hat – keine alte Klage, es war halt so – nicht vom Krieg gesprochen. Einmal oder vielleicht zweimal sprach er von einem der Erlebnisse, welche er machen mußte. Als vielleicht achtzehnjähriger Soldat, Mann gegen Mann. Häuserkampf. Das reichte mir, um genügend eigene Bilder aus diesen kargen Worten zu ziehen. Nachhaltig. Meine Mutter, die mit ihrer Mutter und den fünf Geschwistern – die waren zwischen 11 und anderthalb Jahren alt – zu Fuß von Prag über Dresden nach Ilmenau floh, reagierte meist mit größerem Unverständnis, wenn ich erzählte, daß ich in Dresden war oder Prag und es mir dort gefallen habe. „Ich muß da nicht mehr hinfahren.“ Ich möchte mit den Bildern im Kopf meiner Mutter nicht einschlafen müssen. Letzte Woche hatte ich sie besucht. Sie sprach davon, was der Krieg in der Ukraine bei ihr und ihren Geschwistern wieder lostritt dieser Tage. Zum Abschied riet ich hilflos, sie möge auf die Brennpunkte verzichten und das Anschauen bildergetränkter Nachrichtensendungen stark einschränken.

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Den Redakteuren und Bildmächtigen sei ans Herz gelegt, die tägliche Dosis etwas runterzufahren. Ich glaube nicht an die Wirkung der großen Bilderwelle. Es kann schnell pornographisch werden. Und das soll ja abstumpfen. Emotionale Fluchthilfe statt Anregung über das Tun nachzudenken. Wer zuviel glotzt, schaut vielleicht am Ende weg.

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Mit eignen Fingern

Streiche über die Narben

Augen geschlossen

Und renne nicht weg

Vor der Leinwand die hinter

Deinen Lidern glüht

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Nachricht heute: Ein 96-jähriger Mann, der den Holocaust in den Lagern Buchenwald, Peenemünde, Dora und Bergen – Belsen überlebt hat, wird Opfer einer der Terrorbomben, die Putin auf Charkiw abwerfen ließ.

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Vor den verhängten Spiegeln das Schneiden von Grimassen üben

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We’ve got to fool the fools

We got to plan the plans

We got to rule the rules

We got to stand the stands

We got to fight the fight

We must fall the falls

We got to light the light

We got to call the calls

We must race the race

So we can face the face

We got to race the race

We must race the race

So we can face the face

Face the face

We got to face the face

(Pete Townsend)

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10 Uhr Nachrichten. Tankgutscheine her oder hin. Habeck bettelt in Katar um unseren Stoff. Weil unser alter Dealer durchknallt. Magath will Hart Härter Hertha retten und ist positiv. Keine Masken mehr. Oder doch und warum dann? „Nicht die Impfpflicht ist eine Zumutung, sondern keine Impfpflicht ist die Zumutung!“ Das ruft die jüngste Abgeordnete wütend ins Hohe Haus. Die Virustoten hier zu Lande? Stand heute: 126420! Schreibe:

Einhundertsechsundzwanzigtausendvierhundertundzwanzig.

Die Toten in der Ukraine sind nicht zu zählen. Die Toten, welche unser durchgeknallter Lebensstil weltweit produziert, noch nicht mal hochzurechnen. Ach ja! Man kann den Frühling schon richtig spüren. Oh welch Erkenntnis! Ist auch in jeder Nachrichtensendung dieser Tage tatsächlich mehrere Zeilen wert. Und die Sehnsucht nach den Helden, dem Heldentum in diesen Tagen. Ich verstehe das tiefe Bedürfnis endlich das gesamtgesellschaftliche Hotel Mama verlassen zu wollen – nun ja, wer es sich halt leisten konnte, dort ein Zimmer bezogen zu haben – um wieder ein richtiger Mann zu werden. Zumindest auf dem Sofa und von Genosse Putin beheizt. Kein deutscher Mann zwischen 18 und 60 dürfte das Land verlassen! Gelle! Auch nicht zum Kite – Surfen? Oder einfach nur zum Shoppen in Dubai? Nein, mein Lieber. Ja, aber ich bin doch geboostert! Junge, da verwechselst Du leider etwas.

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Man sollte weiterhin vorsichtig sein und halt ein bisserl langweilig bleiben. Held und Held ist leicht zu verwechseln. Deutschland und seine Ahnen haben, wenn, stets Angriffskriege geführt, nie Verteidigungskriege. Und schon gar nicht Freiheitskriege. Das haben andere für uns erledigt. Aber reden können wir. Das sollten wir tun. Und dann den vollen Rechnungsbetrag begleichen. Das Trinkgeld nicht vergessen. Und dann schweigen. Und wieder von vorne anfangen. Geduldig. Und die Brennpunkte und „Specials“ abschaffen. Ach, quatsch doch keine Opern. Wer spricht?

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Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun –
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot –
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.

(Gottfried Benn)

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Und vor dem verhängten Spiegel Grimassen übend, frage ich mich, was ist denn nun ein Reden, was nur ein Quatschen?

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Das dunkle Lied vom verletzten Stolz statt von der Scham kennt keine Gnade

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Ehemaliger Grenzübergang Wartha – Herleshausen / 4. Oktober 2021

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„Der politischen Aussichtslosigkeit kann der Führer der Krimtataren, Refat Tschubarow, nur den Hinweis entgegenhalten, daß sein Volk bis jetzt noch immer alle Schläge überlebt habe. Denn realistisch ist es nicht, daß sich irgendwer auf der Welt für seine kleine Minderheit verwendet, die Ukrainer nicht, die wegen der Krim keinen zweiten Krieg gegen eine Großmacht führen werden, Europa schon gar nicht, das mit Rußland genug andere Konflikte hat, und Amerika … ach, Amerika war mal ein Traum.

Ich besuche Tschubarow in einer unscheinbaren Hinterhauswohnung, Geschäftsstelle eines Volks, wo er mehr melancholisch als empört die Schläge der letzten zweihundert Jahre aufzählt, Vertreibungen, Deportationen, Massenmorde, Verhaftungen, Landraub, Diskriminierungen, falsche Beschuldigungen, früher der Kollaboration, heute des religiösen Extremismus. Gerade hatte sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine und der Rückkehr der Tataren aus der Verbannung eine Zukunft abgezeichnet, eine gesicherte, friedliche und freie Existenz, in der sie die Trümmer ihrer alten Kultur hätten sammeln und neu aufbauen können, da hat die russische Annexion der Krim sie erneut zu Bürgern zweiter Klasse gemacht. Immer habe sein Vater in Samarkand gesagt, fast wie ein Gebet: Wir werden heimkehren, wir werden heimkehren. Er kehrte heim auf die Krim und starb am 13. März 2014, als in den Straßen wieder russische Soldaten marschierten. Seine Mama – der Sechzigjährige benutzt dieses Wort: Mama – lebt noch in der Heimat, nur daß er sie nicht mehr besuchen kann.

„Stalin hat meine Eltern deportiert, Putin mir die Eltern genommen.“

Eine realistische Perspektive, wie die Krim wieder in die Ukraine zurückgeführt werden könnte, vermag Tschubarow nicht aufzuzeigen. Rußland müsse stärker unter Druck gesetzt werden, sagt er beinah verzweifelt, um selbst zu konstatieren, daß der deutsche Außenminister Steinmeier im Gegenteil die Sanktionen aufheben wolle, um Verhandlungen zu führen.

„Du gibst einem Erpresser alles, damit er mit dir in Verhandlungen tritt – worüber willst du dann noch verhandeln?“

Ob ihn der Pessimismus nicht niederdrücke, frage ich. Nein, sagt Tschubarow, nein, es gebe so viele Lösungsmöglichkeiten, man müsse nur in die Geschichte schauen.

„In der Geschichte?“ frage ich. „Das zwanzigste Jahrhundert ist doch voll von Vertreibungen, und kaum eine ist rückgängig gemacht worden. Im Gegenteil: Länder wie Polen, Deutschland, auch die Griechen oder Türken konnten ihren Frieden nur machen, weil sie sich mit den Vertreibungen abgefunden haben.“

„Ja, aber Deutschland hatte noch ein Land. Die deutsche Sprache, die deutsche Kultur war nicht vom Aussterben bedroht. Die Führer der großen Nationenhaben kein Gespür dafür, wie es für Minderheiten ist. Wenn wir verlieren, dann verlieren wir alles. Dann gibt es uns nicht mehr.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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Jeden Morgen trinke ich weiterhin meinen Tee aus einer Tasse, die mir zum Abschied damals in Sowetsk geschenkt wurde. Heute vergaß ich auch den Pin der Gesellschaft für Deutsch – Russische Freundschaft, der seit damals an einem meiner Jacketts heftet, vor dem Betreten der Fußgängerzone zu entfernen. Was ich schrieb vor 4 Jahren? (Eintrag vom 5. September unten) Die Ansage der Delegationsleitung damals: „Auf keinen Fall politische Themen anschneiden!“ Wir waren folgsam. Wir haben uns folgsam betrunken.

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1978 fiel der Stadt Hannover auf, daß der Führer noch Ehrenbürger ihrer Stadt war. Jetzt sind sie richtig schnell unterwegs. Die Stadt Gießen benötigte wiederum knappe 10 Jahre bis sie ihrem Bürger, dem Friedenspolitiker und Pazifist Horst Eberhard Richter diese Würde angedeihen lassen wollte.

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„Du kämpfst?“ frage ich erstaunt, weil ich mir einen wie Pavel, einen feinsinnigen Theatermann mit weicher Stimme, der Körperbau zart, so gar nicht als Krieger vorzustellen vermag.

„Ich habe mich als Reservist gemeldet. Irgendetwas muß man doch tun, wenn man auf dem Maidan war. Auch wenn man das in Kiew nicht merkt – wir haben nun einmal Krieg. Und abgesehen davon, ist die Miliz sehr interessant.“

„Warum?“

„Das sind Leute aus allen Schichten, mit denen hätte ich sonst nie etwas zu tun. Und es ist auch interessant zu erfahren, was eine Waffe mit dir macht. Das meine ich jetzt persönlich, aber das gilt natürlich ebenso fürs Land. Du fühlst dich nicht mehr so verletzlich.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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Und nun sollen alte sowjetische Flugabwehrwaffen aus Beständen der Volksarmee die russische Aggression zumindest stundenweise stoppen. Mehr kann das blanke deutsche Militär wohl nicht tun. Perversionen unserer Geschichte.

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Laß uns das Schälchen erheben,

die Koto anstimmen und

die Mondhelle preisen.

Dann erst fragen nach der morgigen Nacht,

ob es klar wird oder bedeckt,

denn – wer weiß das schon?

(Basho)

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First we take Manhattan, then we take Kiew? Oder: ab wann ist denn nun ein Flüchtling ein guter Flüchtling?

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Grenzlandmuseum Eichsfeld / 14. Juni 2019

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„Abends in Kiew dann die Rückkehr ins eigene Koordinatensystem. Vielleicht weil ich von Eindrücken schon entwöhnt bin – auch die Landschaft ist schließlich seit Vilnius nur eintönig und flach gewesen -, kommt mir das Nachtleben um so greller, anarchischer vor, die Restaurants und Bars bis auf die Bürgersteige gefüllt, die gutgekleideten jungen Menschen, die erkennbar vergnügungssüchtig sind, eine Stadt, die zugleich boomt und zerfällt, hier pittoresk heruntergekommene Altbauten, dort bereits Gentrifizierung, die jedes Leben aus den Gassen vertreibt, die Straßenbahnen noch aus dem kalten Krieg, wo in Minsk alles pikobello war, Schmutz auf den Straßen, der in Weißrußland nirgends lag, die Armut sichtbar und der Reichtum um so protziger ausgestellt. „Die in den SUVs sind ausnahmslos alle kriminell“, murmelt Sashko, wie der Fahrer heißt, aufgewachsen in einer Lemberger Künstlerfamilie, später Taxifahrer und Barmann in New York, heute Revolutionär und glühender Patriot. „Putin versteht nur die Faust“, sagt er, um im nächsten Satz die eigene Regierung zu verfluchen.

An den Gebäuden rings um den Maidan sind hier und dort noch Einschußlöcher zu erkennen, in der Mitte Photos der Märtyrer aufgestellt. Ansonsten ist der riesige Platz mit den sowjetischen Hochhäusern, der in den Nachrichtensendungen einen ganz falschen Eindruck vom historischen Stadtbild vermittelte, längst von der Freizeitgesellschaft zurückerobert worden. Touristen, Jugendliche, Familien mit Kindern, die gleichen Straßenkünstler wie in Krakau oder Barcelona, der ganze Tand, den man früher nur auf der Kirmes fand. Auf einigen Werbetafeln sind Soldaten zu sehen, die im Osten kämpfen. Der Krieg könnte nicht weiter weg sein.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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Beginnt die Freiheit, die wir die unsere nennen – beziehungsweise nennen lassen – eigentlich erst in Kabul oder doch schon in Kiew? Oder gar vor der eigenen Haustür? Im Dannenröder Forst? Sehr viele nehmen leider auf dem Weg von der Ohnmacht zur phantasierten Allmacht eine Abkürzung.

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„Konstantin ist Politikberater, war einmal für Serhij Taruta tätig, der zu den liberaleren Oligarchen gehört, und ist trotz seiner Weltläufigkeit stolzer ukrainischer Nationalist. Dabei hat er selbst keinen Tropfen ukrainisches Blut in den Adern, wie er ironisch vermerkt, wurde 1980 in Donezk geboren, der sowjetisch geprägten Industriestadt im Osten, wo heute die Separatisten herrschen, wuchs ohne Bezug zur ukrainischen Kultur auf, beherrschte die Sprache so gut wie nicht und ging zum Politikstudium nach Moskau. Als die Revolution ausbrach, stellten sich die meisten seiner Bekannten wie selbstverständlich auf die Seite der Regierung, die das Land nach Osten ausrichtete. Konstantin zögerte kurz. Dann flog er nach Kiew und marschierte mit auf dem Maidan. Warum?

„Weil die politischen Ideale meine eigenen waren: Freiheit, Demokratie, Europa.“

„Faschist“, beschimpfte ihn ein Freund, aber umgekehrt zögert Konstantin auch nicht, Putin mit Hitler gleichzusetzen, und führt Paralellen an. Inzwischen lernt er ukrainisch, und seine Kinder wachsen von Anfang an zweisprachig auf. Und was solle mit den vielen anderen Menschen geschehen, deren Eltern oder Großeltern innerhalb der Sowjetunion umgesiedelt worden sind, frage ich. Plötzlich fänden sie sich in einem Staat wieder, mit dem sie überhaupt nichts verbindet. Ja, sagt Konstantin, sicher sei das schwierig. Er verstehe auch seine Familie, die in Donezk geblieben ist: Sie hätten keine sonderlichen Sympathien für die Separatisten, doch seien sie alte Leute, konservativ, nicht willens ihre Heimat aufzugeben.

„Was ist dann also mit den Russen, die in der sowjetischen Zeit in die Ukraine gekommen sind?“ hake ich nach. „Man kann doch diese Leute nicht alle zwingen, die ukrainische Kultur anzunehmen.“

„Warum nicht?“ meint Konstantin: „Mindestens für ihre Kinder müssen sie entscheiden, ob sie Ukrainer oder Russen sein sollen.“

„Und was, wenn sie Russen bleiben wollen?“

„Das wird natürlich ein Problem sein.“

„Was für ein Problem? Werden sie dann vertrieben?“

„Nein. Aber wer unter dem Einfluß der russischen Propaganda steht, wird sich kaum in die Ukraine integrieren können.“

„Dann läuft es doch auf Vertreibung hinaus.“

„Nein. Nein. Aber man kann doch nicht alle Rechte eines Staates genießen und den Staat gleichzeitig ablehnen. Das würde nirgendwo auf der Welt gehen.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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… außer natürlich in Deutschland, denke ich beim Lesen des letzten Satzes. Hier gehört es quasi zum guten Ton in etlichen, auch gut bezahlten Diskursen, lechts wie rinks.

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Da haben wir fünf Jahre lang dauerempört und moraleregiert den Zeigefinger Richtung Washington ausgestreckt, von wo aus Chief „The Deal“ Orangehair die Erhöhung unseres Beitrages zur NATO – Finanzierung auf zwei Prozent einforderte. Tja, jetzt gehen sie – als einzige – ab: die Aktien der Rüstungsindustrie. Besser zu spät als zu früh. Oder? Ich mag nicht so recht ins eigene Koordinatensystem zurückkehren. Falls ich je eines hatte.

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Die Menschenwelt –

Ein Jammertal! Auch für den Mond:

Er verfinstert sich.

(Issa)

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Stell Dir vor 3 Wochen nach Ausbruch erführest Du durch einen Boten vom Ausbruch eines weiteren Krieges!

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Gedenkstätte „Point Alpha“ / 11. Oktober 2021

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„Aber was meinst du denn selbst?“ frage ich Andrej: „Wäre es gut, wenn Weißrußland zu Europa gehörte? Ich meine, wenn der Beitritt zur Europäischen Union eine Perspektive wäre?“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortet Andrej. „Das Dorf wäre nicht vorbereitet. Das würde nicht langsam sterben, sondern sofort hinweggefegt. Weißt du, wir befinden uns an der Kreuzung unterschiedlicher Welten, das macht uns besonders. Der Sinn unserer Kultur ist, daß wir Westen und Osten sind. Wenn wir uns nur dem Westen zuwendeten, würden wir unsere Kultur zerstören. Ich stelle mir immer vor, wir hätten nach beiden Seiten einen Zaun, nach Westen und nach Osten. Aber einen ganz niedrigen Zaun, über den man leicht steigen kann.“

Ich sagte Andrej, daß es Menschen wie ihn brauche, die gewissermaßen übersetzen. Ohne ihn hätte ich, hätten nicht mal meine Begleiter aus Minsk einen Zugang zu dieser dörflichen Welt am Rande Europas gefunden. Selbst mit Dolmetscher hätte ich nicht einfach mit den Menschen sprechen können.

„Ja, aber man muß länger bleiben, wenn man verstehen will“, gibt er zu bedenken.

„Das stimmt“, antworte. „Aber manches versteht man auch erst, wenn man reist, nicht wenn man bleibt.“

„Kann sein“, sagt Andrej Horwarth, der wegen seiner Ziege immer nur für einen Tag verreisen kann.

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / LESEN!!!)

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Und wenn Putin nichts anderes ist als der böse Geist und die Fratze der Globalisierung? Seit zwei Jahren verabschieden wir uns Tag für Tag von vermeintlichen Gewißheiten. Muß man erstmal fressen. Meist zu spät. Aber dafür in einem Höllentempo.

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Dankbar dafür in beheizten Räumen solche Gedanken denken zu können und unbehelligt – außer von den Zumutungen eigener Fehleinschätzungen und / oder naiver Wunschgebilde – niederschreiben zu dürfen.

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Wir haben ihn beschrieben,

dann zweigeteilt den Fächer

schmerzlichen Gedenkens …

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(Basho)

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In the Bordertowns of Despair / Eight

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Bob Dylan / Hunan Province

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8

Jetzt gehe ich hinaus, sagt sie. Und wieder steht sie vor dem Spiegel ihres Badezimmers. Da ist was, pflegt sie zu sagen, da ist was. Da neben der Nase, da auf der Stirn. Eine – herrliches Wort – Hautunreinheit. Wieder und wieder kreisen ihre Fingernägel um einen kleinen Fleck, bearbeiten, kneten, drücken, schaben. Es gibt mich nicht. Es gibt nur das, was ich Spiegel sehe. Ich kann mich nicht fassen. Ich bin ein Loch. Ich bin eine These. Ich ich ich ich ich ich ich ich ich: nichts. Alles. Ich fasse meine Haut, der kleine Schmerz macht mich sehen, aber ich sehe nichts, keine Zeit, Stillstand. Milch. Butter. Salzstangen. Schokolade mit Mandeln. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Da muss doch noch was sein unter meiner Haut, ich gehe unter meine Haut, es blutet. Ich blute. Blut. Was ist hinter dem Blut. Türe um Türe stoß ich auf und finde nichts, nichts. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Das hatte er gesagt am Telefon. Gemüse. Auberginen. Ich habe wieder ein Loch in meine Haut gemacht. Keiner darf eindringen in mich, er wird nichts finden und gehen müssen. Abdeckstift, wo ist mein Abdeckstift. Ich bin mein eigener Verputzer. Es ist wie Weihnachten, damals, ich habe das Paket aufgerissen, ich muss es wieder verpacken. Noch eine Kordel. Keiner darf etwas sehen, nicht mal ich. Fischfilets und Abdeckstifte. Nico singt. „I`ll be your mirror.“ Jetzt ist es, jetzt ist es gut. Wie rieche ich, kann ich mich riechen. Eine Paste tilgt meinen Geruch, kann ich mich riechen, jetzt bin ich null und trage auf noch eine Creme. Jetzt rieche ich wieder. Wie. Wie er. Wie was. Jetzt gehe ich einkaufen. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Tiefgefrorene Alaskafischfilets. Ich bin ein Fischfilet. Aber ein Fischfilet mit einem Plan. Kalt und ausgeliefert. Sie greift eine Einkaufstasche. Jetzt geht sie raus. Hinaus. Wer geht da raus. Geht doch alles zum Teufel.

Auf dem freien Feld steht Woyzeck und hört Stimmen. Still ist alles, so still, als sei sie tot die Welt. Zwei Hasen fraßen ab das grüne, grüne Gras. Und es geht etwas. Über uns, unter uns, neben uns. Woher kommen die Momente, wenn sich in dir plötzlich alle von den Alltäglichkeiten zugenagelten Türen öffnen und eine gräßliche Klarheit die Eingeweide streift. Sara, Sara, wie er geht, wie er steht. Der Löw. Helmer jedoch kommt nach Hause und pfeift sein Vögelchen zu sich. Das Wunder wird niemals geschehen. Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt mich erstechen. Marie, sie lacht. Sie dreht sich, ihr Rock flattert. Ach, was Welt. Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.

Der Andere hat eine Hoffnung. Was ist, wenn seine Freundin auf einmal auf der Toilette bliebe. Einfach so. Für immer. Wenn die Klospülung sie mitnimmt und hinausspült in ein Land, wo lauter trostspendende Hände von den Bäumen baumeln, sie nehmen, aufnehmen, übernehmen und er … ach. Die Klospülung rauscht und vertraute Finger fahren über und in sein Gesicht. Er murrt. Keine Premierenerektion. Zigaretten. Tränen. Abreisedrohung. Ach, Du, bleib halt. Wir werden immer mutiger.

Da ist ein Haus. Die Sonne lacht. Da ist Papa. Papa kommt von der Arbeit. Mama steht mit den Kindern am Gartentor und wartet auf Papa. Die Kleine rennt ihm entgegen. Papa hebt sie hoch und drückt ihr einen Kuss auf die Nase. Sie lacht. Den beiden Jungs streicht er über den Kopf, bevor er Mama einen Kuss auf die Wange drückt. Mama sagt, es gibt Koteletts mit Bratkartoffeln. Papa schmeißt seine Tasche auf die Eckbank in der Küche und sagt: Aha mein Lieblingsgericht. Die Sonne geht unter, alle lachen. Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne …  Guten Appetit … Gute Nacht Johnboy … Testbild. Auf dem Balkon sitzt Papa und raucht. Er möchte seine Kinder töten. Seine Frau hat mit einem Buckligen geschlafen.  (Fragment, gekürzt)

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(Mainz / Oktober 2000)

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