First we take Manhattan, then we take Kiew? Oder: ab wann ist denn nun ein Flüchtling ein guter Flüchtling?

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Grenzlandmuseum Eichsfeld / 14. Juni 2019

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„Abends in Kiew dann die Rückkehr ins eigene Koordinatensystem. Vielleicht weil ich von Eindrücken schon entwöhnt bin – auch die Landschaft ist schließlich seit Vilnius nur eintönig und flach gewesen -, kommt mir das Nachtleben um so greller, anarchischer vor, die Restaurants und Bars bis auf die Bürgersteige gefüllt, die gutgekleideten jungen Menschen, die erkennbar vergnügungssüchtig sind, eine Stadt, die zugleich boomt und zerfällt, hier pittoresk heruntergekommene Altbauten, dort bereits Gentrifizierung, die jedes Leben aus den Gassen vertreibt, die Straßenbahnen noch aus dem kalten Krieg, wo in Minsk alles pikobello war, Schmutz auf den Straßen, der in Weißrußland nirgends lag, die Armut sichtbar und der Reichtum um so protziger ausgestellt. „Die in den SUVs sind ausnahmslos alle kriminell“, murmelt Sashko, wie der Fahrer heißt, aufgewachsen in einer Lemberger Künstlerfamilie, später Taxifahrer und Barmann in New York, heute Revolutionär und glühender Patriot. „Putin versteht nur die Faust“, sagt er, um im nächsten Satz die eigene Regierung zu verfluchen.

An den Gebäuden rings um den Maidan sind hier und dort noch Einschußlöcher zu erkennen, in der Mitte Photos der Märtyrer aufgestellt. Ansonsten ist der riesige Platz mit den sowjetischen Hochhäusern, der in den Nachrichtensendungen einen ganz falschen Eindruck vom historischen Stadtbild vermittelte, längst von der Freizeitgesellschaft zurückerobert worden. Touristen, Jugendliche, Familien mit Kindern, die gleichen Straßenkünstler wie in Krakau oder Barcelona, der ganze Tand, den man früher nur auf der Kirmes fand. Auf einigen Werbetafeln sind Soldaten zu sehen, die im Osten kämpfen. Der Krieg könnte nicht weiter weg sein.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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Beginnt die Freiheit, die wir die unsere nennen – beziehungsweise nennen lassen – eigentlich erst in Kabul oder doch schon in Kiew? Oder gar vor der eigenen Haustür? Im Dannenröder Forst? Sehr viele nehmen leider auf dem Weg von der Ohnmacht zur phantasierten Allmacht eine Abkürzung.

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„Konstantin ist Politikberater, war einmal für Serhij Taruta tätig, der zu den liberaleren Oligarchen gehört, und ist trotz seiner Weltläufigkeit stolzer ukrainischer Nationalist. Dabei hat er selbst keinen Tropfen ukrainisches Blut in den Adern, wie er ironisch vermerkt, wurde 1980 in Donezk geboren, der sowjetisch geprägten Industriestadt im Osten, wo heute die Separatisten herrschen, wuchs ohne Bezug zur ukrainischen Kultur auf, beherrschte die Sprache so gut wie nicht und ging zum Politikstudium nach Moskau. Als die Revolution ausbrach, stellten sich die meisten seiner Bekannten wie selbstverständlich auf die Seite der Regierung, die das Land nach Osten ausrichtete. Konstantin zögerte kurz. Dann flog er nach Kiew und marschierte mit auf dem Maidan. Warum?

„Weil die politischen Ideale meine eigenen waren: Freiheit, Demokratie, Europa.“

„Faschist“, beschimpfte ihn ein Freund, aber umgekehrt zögert Konstantin auch nicht, Putin mit Hitler gleichzusetzen, und führt Paralellen an. Inzwischen lernt er ukrainisch, und seine Kinder wachsen von Anfang an zweisprachig auf. Und was solle mit den vielen anderen Menschen geschehen, deren Eltern oder Großeltern innerhalb der Sowjetunion umgesiedelt worden sind, frage ich. Plötzlich fänden sie sich in einem Staat wieder, mit dem sie überhaupt nichts verbindet. Ja, sagt Konstantin, sicher sei das schwierig. Er verstehe auch seine Familie, die in Donezk geblieben ist: Sie hätten keine sonderlichen Sympathien für die Separatisten, doch seien sie alte Leute, konservativ, nicht willens ihre Heimat aufzugeben.

„Was ist dann also mit den Russen, die in der sowjetischen Zeit in die Ukraine gekommen sind?“ hake ich nach. „Man kann doch diese Leute nicht alle zwingen, die ukrainische Kultur anzunehmen.“

„Warum nicht?“ meint Konstantin: „Mindestens für ihre Kinder müssen sie entscheiden, ob sie Ukrainer oder Russen sein sollen.“

„Und was, wenn sie Russen bleiben wollen?“

„Das wird natürlich ein Problem sein.“

„Was für ein Problem? Werden sie dann vertrieben?“

„Nein. Aber wer unter dem Einfluß der russischen Propaganda steht, wird sich kaum in die Ukraine integrieren können.“

„Dann läuft es doch auf Vertreibung hinaus.“

„Nein. Nein. Aber man kann doch nicht alle Rechte eines Staates genießen und den Staat gleichzeitig ablehnen. Das würde nirgendwo auf der Welt gehen.“

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / im Winter 2016)

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… außer natürlich in Deutschland, denke ich beim Lesen des letzten Satzes. Hier gehört es quasi zum guten Ton in etlichen, auch gut bezahlten Diskursen, lechts wie rinks.

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Da haben wir fünf Jahre lang dauerempört und moraleregiert den Zeigefinger Richtung Washington ausgestreckt, von wo aus Chief „The Deal“ Orangehair die Erhöhung unseres Beitrages zur NATO – Finanzierung auf zwei Prozent einforderte. Tja, jetzt gehen sie – als einzige – ab: die Aktien der Rüstungsindustrie. Besser zu spät als zu früh. Oder? Ich mag nicht so recht ins eigene Koordinatensystem zurückkehren. Falls ich je eines hatte.

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Die Menschenwelt –

Ein Jammertal! Auch für den Mond:

Er verfinstert sich.

(Issa)

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Stell Dir vor 3 Wochen nach Ausbruch erführest Du durch einen Boten vom Ausbruch eines weiteren Krieges!

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Gedenkstätte „Point Alpha“ / 11. Oktober 2021

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„Aber was meinst du denn selbst?“ frage ich Andrej: „Wäre es gut, wenn Weißrußland zu Europa gehörte? Ich meine, wenn der Beitritt zur Europäischen Union eine Perspektive wäre?“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortet Andrej. „Das Dorf wäre nicht vorbereitet. Das würde nicht langsam sterben, sondern sofort hinweggefegt. Weißt du, wir befinden uns an der Kreuzung unterschiedlicher Welten, das macht uns besonders. Der Sinn unserer Kultur ist, daß wir Westen und Osten sind. Wenn wir uns nur dem Westen zuwendeten, würden wir unsere Kultur zerstören. Ich stelle mir immer vor, wir hätten nach beiden Seiten einen Zaun, nach Westen und nach Osten. Aber einen ganz niedrigen Zaun, über den man leicht steigen kann.“

Ich sagte Andrej, daß es Menschen wie ihn brauche, die gewissermaßen übersetzen. Ohne ihn hätte ich, hätten nicht mal meine Begleiter aus Minsk einen Zugang zu dieser dörflichen Welt am Rande Europas gefunden. Selbst mit Dolmetscher hätte ich nicht einfach mit den Menschen sprechen können.

„Ja, aber man muß länger bleiben, wenn man verstehen will“, gibt er zu bedenken.

„Das stimmt“, antworte. „Aber manches versteht man auch erst, wenn man reist, nicht wenn man bleibt.“

„Kann sein“, sagt Andrej Horwarth, der wegen seiner Ziege immer nur für einen Tag verreisen kann.

(aus Navid Kermani / Entlang den Gräben / LESEN!!!)

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Und wenn Putin nichts anderes ist als der böse Geist und die Fratze der Globalisierung? Seit zwei Jahren verabschieden wir uns Tag für Tag von vermeintlichen Gewißheiten. Muß man erstmal fressen. Meist zu spät. Aber dafür in einem Höllentempo.

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Dankbar dafür in beheizten Räumen solche Gedanken denken zu können und unbehelligt – außer von den Zumutungen eigener Fehleinschätzungen und / oder naiver Wunschgebilde – niederschreiben zu dürfen.

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Wir haben ihn beschrieben,

dann zweigeteilt den Fächer

schmerzlichen Gedenkens …

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(Basho)

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In the Bordertowns of Despair / Eight

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Bob Dylan / Hunan Province

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8

Jetzt gehe ich hinaus, sagt sie. Und wieder steht sie vor dem Spiegel ihres Badezimmers. Da ist was, pflegt sie zu sagen, da ist was. Da neben der Nase, da auf der Stirn. Eine – herrliches Wort – Hautunreinheit. Wieder und wieder kreisen ihre Fingernägel um einen kleinen Fleck, bearbeiten, kneten, drücken, schaben. Es gibt mich nicht. Es gibt nur das, was ich Spiegel sehe. Ich kann mich nicht fassen. Ich bin ein Loch. Ich bin eine These. Ich ich ich ich ich ich ich ich ich: nichts. Alles. Ich fasse meine Haut, der kleine Schmerz macht mich sehen, aber ich sehe nichts, keine Zeit, Stillstand. Milch. Butter. Salzstangen. Schokolade mit Mandeln. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Da muss doch noch was sein unter meiner Haut, ich gehe unter meine Haut, es blutet. Ich blute. Blut. Was ist hinter dem Blut. Türe um Türe stoß ich auf und finde nichts, nichts. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Das hatte er gesagt am Telefon. Gemüse. Auberginen. Ich habe wieder ein Loch in meine Haut gemacht. Keiner darf eindringen in mich, er wird nichts finden und gehen müssen. Abdeckstift, wo ist mein Abdeckstift. Ich bin mein eigener Verputzer. Es ist wie Weihnachten, damals, ich habe das Paket aufgerissen, ich muss es wieder verpacken. Noch eine Kordel. Keiner darf etwas sehen, nicht mal ich. Fischfilets und Abdeckstifte. Nico singt. „I`ll be your mirror.“ Jetzt ist es, jetzt ist es gut. Wie rieche ich, kann ich mich riechen. Eine Paste tilgt meinen Geruch, kann ich mich riechen, jetzt bin ich null und trage auf noch eine Creme. Jetzt rieche ich wieder. Wie. Wie er. Wie was. Jetzt gehe ich einkaufen. Fisch. Fischfilets. Tiefgefrorene Fischfilets. Tiefgefrorene Alaskafischfilets. Ich bin ein Fischfilet. Aber ein Fischfilet mit einem Plan. Kalt und ausgeliefert. Sie greift eine Einkaufstasche. Jetzt geht sie raus. Hinaus. Wer geht da raus. Geht doch alles zum Teufel.

Auf dem freien Feld steht Woyzeck und hört Stimmen. Still ist alles, so still, als sei sie tot die Welt. Zwei Hasen fraßen ab das grüne, grüne Gras. Und es geht etwas. Über uns, unter uns, neben uns. Woher kommen die Momente, wenn sich in dir plötzlich alle von den Alltäglichkeiten zugenagelten Türen öffnen und eine gräßliche Klarheit die Eingeweide streift. Sara, Sara, wie er geht, wie er steht. Der Löw. Helmer jedoch kommt nach Hause und pfeift sein Vögelchen zu sich. Das Wunder wird niemals geschehen. Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt mich erstechen. Marie, sie lacht. Sie dreht sich, ihr Rock flattert. Ach, was Welt. Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.

Der Andere hat eine Hoffnung. Was ist, wenn seine Freundin auf einmal auf der Toilette bliebe. Einfach so. Für immer. Wenn die Klospülung sie mitnimmt und hinausspült in ein Land, wo lauter trostspendende Hände von den Bäumen baumeln, sie nehmen, aufnehmen, übernehmen und er … ach. Die Klospülung rauscht und vertraute Finger fahren über und in sein Gesicht. Er murrt. Keine Premierenerektion. Zigaretten. Tränen. Abreisedrohung. Ach, Du, bleib halt. Wir werden immer mutiger.

Da ist ein Haus. Die Sonne lacht. Da ist Papa. Papa kommt von der Arbeit. Mama steht mit den Kindern am Gartentor und wartet auf Papa. Die Kleine rennt ihm entgegen. Papa hebt sie hoch und drückt ihr einen Kuss auf die Nase. Sie lacht. Den beiden Jungs streicht er über den Kopf, bevor er Mama einen Kuss auf die Wange drückt. Mama sagt, es gibt Koteletts mit Bratkartoffeln. Papa schmeißt seine Tasche auf die Eckbank in der Küche und sagt: Aha mein Lieblingsgericht. Die Sonne geht unter, alle lachen. Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne …  Guten Appetit … Gute Nacht Johnboy … Testbild. Auf dem Balkon sitzt Papa und raucht. Er möchte seine Kinder töten. Seine Frau hat mit einem Buckligen geschlafen.  (Fragment, gekürzt)

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Seven

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Bob Dylan / Opium

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7

Sie bekommt Besuch, ein alter Bekannter, auf den Sonnenstrahlen ist es hinab gerutscht, das Vieh, unerwartet, brutal, rasend und es saß vor ihr achtbeinig, grüngepelzt, grinsend, sich mit seiner langen knallroten Zunge die schleimigen Nasenlöcher ausleckend. Es hatte viele Gesichter. Vaters Gesicht, C.`s Gesicht, Mutters Gesicht, ihr eigenes Gesicht, das Gesicht eines Intendanten, eines Finanzbeamten, eines Schuhverkäufers, einer unfreundlichen Kassiererin im Supermarkt und seit heute noch ein weiteres Gesicht voller Erwartungen, Forderungen, Hoffnungen und das traf sie ins Mark. Das Gesicht des Anderen. In den letzten Tagen hatte sie es oft vergessen können, das Vieh, aber ihr unfehlbarer Instinkt sagte ihr, es ist da, zuschnappender, fordernder, wütender, freundlicher und tätiger denn je. Sie mußte sich der Anfechtungen erwehren und hatte sich ergangen in die Gleichförmigkeiten eines Alltags, schleppte samstags Blumen in die Wohnung, fand sich mit einem Einkaufskorb durch die neue Stadt gehen und belustigt sagte sie zu ihm am Telefon : „Wie meine Mutter.“ Das Tier spuckte sich in seine kleinen miesen Pfoten und pisste in ihren Kaffee. Ihr war schlecht. „Das wird mein größter Auftritt.“ Und sie war nicht gut vorbereitet. Zwar hatte sie viel schon in die Wege geleitet, Freundlichkeiten hier, Verweigerungen dort, aber nun begriff sie: wenn man etwas tut, bewegt sich nicht nur der eigene Arsch. In diesem Haus muss man samstags die Treppe wischen. Gott sei Dank. Nein, sie schüttet den Eimer nicht um, sie nicht, sie nicht. Die alten Damen, ein Stockwerk tiefer sehen mit Freude eine schöne und „eifrige“ junge Frau durchs Treppenhaus huschen. Unsere Schauspielerin, ach. Ihre Auge glänze noch.

„Weg. Weg. Weg. Meine Gattin weint. Ich halte sie umfasst. Es ist ein trübes Frühjahr. Unten treiben müde die Frachtschiffe vorbei.  An Bord eines der Schiffe ein grüner Golf. Quer steht er. Wäscheleinen. Niederländische Unterwäsche flattert im Fahrtwind. Der Rhein riecht verfault. Das ist nicht mehr das Wasser, welches meine Heimatstadt verlassen hat. Am Rheinkilometer NULL, da kannst du schwimmen, gegenüber der Wohnung meiner Mutter. Hier erinnern große Steintafeln daran wie weit das Haus der Mutter entfernt. Meine Mutter wohnt am Rheinkilometer NULL. Ich lebe diesen Fluß hoch und runter. Meine Gattin weint. Ich halte sie umfasst. Ein Stück Fleisch. Ich umfasse eine Erinnerung. Irgendwo fliegt die Löwenmähne durch den Tag, dieser Geruch ist in mir. Ich umfasse meine Gattin. Ihre riesigen Augen versuchen mich aufzusaugen, die Bitte, die eine große Bitte. Warum stoße ich sie eigentlich nicht diesen Felsen hinab, setze mir eine blonde Perücke auf, bleibe sitzen und warte darauf, daß vorbeiziehende Japaner mich fotographieren? Ich spreche, gelassen, traurig, Warteworte, Abwiegelworte, Streichelworte, Abwieglerworte. Anstatt meine Hände um ihre Gurgel zu legen. Weil sie mich liebt. Ihren Hals zu zerquetschen und ihr in die Rehdackelaugen zu schreien, du bist nicht, die die ich liebe, du bist mir eine entsetzliche Last, weil du funktionierst, wie ich will, weil du machst, daß es mir gut geht, löse dich auf, befreie mich von dir, mach es mir einfach, mach mich leicht. Haha, ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“ Der Zug gleitet an der Loreley vorüber. Erschrocken, aber auch angezogen von seinen Abgründen klappt er die Kladde zu. Der Fußballprofi steht auf und lächelt. „Du denkst zu laut, Schauspieler!“, sagt er. Er bestellt ein letztes Bier. Der Lautsprecher meldet sich. „Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten, erreichen wir die neue Stadt. Dort haben sie Anschluss mit der S – Bahn um sowieso Uhr in eine der älteren Städte aus Gleis 2. Auf Grund umfangreicher Bauarbeiten kann es zu Gleisänderungen kommen. Bitte beachten sie die örtlichen Lautsprecherdurchsagen.“

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Zeitenwende (Mitfahrgelegenheit)

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? Ein inzwischen graumelierter 007, aber immer noch unbeleckt von gegenderten Zweifeln, der mit seinem – Zugeständnis an die Reise zurück in die Zukunft – hybriden Aston Martin durch die französischen Seealpen brettert auf der Jagd nach dem Großen Bösewicht. Er ist sich sicher seinen Gegenspieler (Feind?) vor sich herzujagen. Nur eine Frage der Zeit. Plötzlich kommt ihm dieser entgegen. Volles Tempo. Ausweichen wird der nicht. Natürlich ist die Straße zu eng für zwei, der Abgrund grüßt und die Kurven sind haarnadelig. Der Gegenspieler (alter Freund?) also schießt vorbei. Knapp ist das alles. Unser Agent, eben noch eingenickt, plötzlich hellwach. Powerslide. Handbremse anziehen. Gleichzeitig Vollgas. Lenkrad festhalten. 180 Grad. Zack. Richtungswechsel. Hinterher dem Hund. Wohin? Zurück? Unten im Hafen von Monte Carlo schlägt die Yacht noch gegen die Kaimauer, wo wir gestern gerne stets als Freunde? Wieviel Zeit nochmal auf der Rückseite der Goldenen Taschenuhr? War mal ein Geschenk!

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? Bis gestern schmurgelte das Omelett leise vor sich hin. Reduzierte Hitze in der Pfanne. Der Koch aber stand vor der Küchentüre, rauchte, telefonierte und kratzte sich gelegentlich am Genital. Plötzlich, ach plötzlich, aber Rauchschwaden aus der Küche. Der Koch stürzt zurück. Beschimpft den Kellner. Dieser habe wieder nicht aufgepasst. Verlernt hat man es nicht. Elegant – Salto rückwärts mit eingedrehter Schraube – fliegt der Pfannkuchen durch die Luft und landet satt ploppend in der überhitzten Pfanne. Das Rabenschwarze jetzt nach oben schauend. Rechtzeitig gewendet? Ist der Pfannkuchen noch genießbar? Egal. Verkauft und bezahlt war er schon länger.

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? Gundermann darf wieder baggern bis ans Ende aller Tagebauten? Freiburg hält in Sachen AKW Fessenheim einfach nachhaltig die Schnauze? Zusätzliche Panzerspuren auf unseren Autobahnen? Mitfahrgelegenheiten schaffen für Einsatzwaffen?

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Die Bettdecken wende beizeiten. Sprach der Narr zum König. Man liegt zu schnell im eigenen Duft.

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Zeitenwende also!?! Wie darf ich mir das vorstellen? In Kiew hat ein Heldenverleih aufgemacht. Wir bedienen uns. Wie hoch könnte die Zeche sein, die wir bezahlen mögen, wenn die Verbindungen gekappt sind und wir den Krieg nicht mehr im TV betrachten können? Hinter den sieben Bergen? Sondern ihn hören werden? Das Comeback des Molotowcocktails in neuen Zusammenhängen. Zeitenwende? Gute Leichen, schlechte Leichen?

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In the Bordertowns of Despair / Six

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Bob Dylan / Woman in Red Lion Pub

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6

Löwenmähne dachte er, Löwenmähne. Ihre Löwenmähne, eine gewaltiger wirrer lockender Haarwasserfall, den sie in seiner Gegenwart meistens streng zusammengefasst hatte, doch jeder Regisseur, jede Kostümbildnerin bat sie und meist mit Erfolg, ihr Haar zu öffnen und über die Bühne direkt in die Herzen und Hosen der Männer fliegen zu lassen. Sie liebt es hart, knapp und abgehackt zu spielen, jedes Wort behauen, ziseliert, Kontrolle bis in den kleinsten Finger, nur eines flog und wogte wild, jenseits aller Kontrolle: die Löwenmähne. An der Löwenmähne über die Bühne geschleift schrie das Tier Marie und der gelbe Schweiß des Woyzeck Franz benetzte ihre Haut. Haare, lachte er, da will sich einer die Haare abschneiden, um seine Unschuld zu beweisen. Der Fußballer lachte mit und meinte er lese die Spielberichte gar nicht mehr. Oh doch, er liebte es Kritiken zu lesen, sie selber schon mehrfach vorformuliert habend, mit unmäßiger Heraushebung der eigenen Leistung und dann dieser kleine allmonatliche Schock, wenn da so oft steht nichts, einfach nichts. Der Fotograf plusterte sich auf und sprach von den Großen vor seiner Linse. Der Kellner brachte Weißbier um Weißbier und zum ersten Mal verpasste er die Loreley, denn sie fuhren auf ihrer Seite. Es war ihm zum grässlichen Ritual geworden. Vor etwas mehr als drei Jahren, als er sich für sie entschied, nach langen Monaten des Werbens, Wartens, Gehens, Kommens, war er noch ein verheirateter Mann gewesen. Wenige Tage vor dem Geburtstag seiner Gattin hatte er die legendären Nägel mit Kopfen eingeschlagen, die, die er wollte, hatte ein lautes „Ich will dich doch auch!“ in den verräterischen nachmittäglichen Kissenkampf geschrien, er hat die Nacht durchgetrunken und sich morgens seiner Gattin offenbart. Sein Geburtstagsgeschenk hätte sein sollen: ein Rheinfahrt. Sie taten dies auch, nun verziert mit dem Bändel der Grausamkeit. Und so standen sie auf der Loreley, die Gattin weinte und weinte und weinte aus ihren riesengroßen waidwunden Augen und ihm war kein Umweg zu schade, kein Trick zu billig, um nicht sagen zu müssen: ich liebe: eine andere: nicht: dich. Und jedes Mal auf der Fahrt von seiner in ihre Stadt riss irgendetwas sein Auge aus der Zeitung, dem Text oder der Bierbüchse und er sah hinauf zum Felsen und trauerte, triumphierte oder es war ihm gleich. Es war wie ein kleines Wettspiel mit seinen Instinkten. Diese gewannen immer. Er war auf dem Weg zu einem neuen Denkmal. Ich weiß nicht was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin.

Der Andere war einer von uns. Warten sei die wahre Zeit, sagen wir, lässig die Zigarette in der Hand, lass dir Zeit, siegesgewiß und warm, es kommt wie es kommen muss, das Herz geht dahin, wo es muss und schon greifen wir das Telefon und schmeißen es ins angebetete Glashaus. Jedes kleine Hihi, ich denk an dich, ist eine Nagel. Unsere Wände, sie sind drapiert mit angenagelten Hoffnungen. Wir nageln sie. Wir nehmen sie. Wir belagern. Wir bleiben Ritter. Wir rennen gegen die Wände. Unser Lieblingswort ist der Schrei. Das aufgerissene getriebene himmelsmächtige Maul. Möge Gott der Herr Schwänze hineinstopfen. Ich werde sie malen, ich habe sie geformt, sie ist hart, klar, gnadenlos. Sie ist schön. Das sprach der Andere vor sich hin. Er drückt ihr sein Mantra ins Ohr. Auch er riecht, hier steht ein Burgfräulein auf den Zinnen. Die Luft sirrte von den Handygeschossen, diesen imaginären Sicherungsseilen virtueller Bergbesteiger in einer trostlos flachen Welt. Seine Form war die knappe, der Schmetterball. Er ahnte nicht welch offenes Tor er berannte. Manche wünschen die Uhren liefen rückwärts, er trat dem Stundenzeiger ins Kreuz. Sein Mädchen war pinkeln, das reicht ihm.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Five

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Bob Dylan / Manhattan Bridge

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5

Er erschrak, als er den Bahnsteig betrat. Es gab Tage, an denen er durch Menschenmassen tänzelte wie ein venezianischer Kellner. Heute jedoch nahm ihm die Wochendendfröhlichkeit der Menschen den Atem und er floh in den Speisewagen. Seinen Tisch teilten ein Fußballprofi eines frisch abgestiegenen Vereins und ein Bildreporter aus einer großen Stadt im Osten, in der er im Frühjahr gearbeitet hatte, den Geist gespielt hatte, der stets das Böse will und … lesen sie ihre Standardwerke doch selber. Kaum hatte der Zug den Fluss überquert und die wehmütigen Türme der großen Kathedrale der alten Stadt waren im Hintergrund verschwunden, hielt der Zug und wurde später umgeleitet. Kinder hatten auf den Gleisen gespielt. Sie hatten. Die drei Vielreiser hatten ihr Thema. Zerfetztes Fleisch zwischen Bahngleisen. Möge der Lokführer seine Träume in den Griff bekommen. Er freute sich zu hören, dass Fußballnationalspieler nachts um 4 betrunken durch die Gassen der Dunkelbierstadt laufen und dumme Lieder singen. Erich Ribbeck saß vor dem Fernseher und polierte derweilen weinend seine Big Bertha. Der Zug hatte die Flußseite gewechselt und er schaute zurück, nach drüben, dorthin wo er noch grüßen sollte, der Schatten des Doms. Es fiel ihm nicht auf, daß er dort nicht mehr zu sehen war. Auf dem Rhein trieb eine Eisscholle vorbei. Der Fußballer sprach von den Spitzen des Eisberges. Sie bestellten noch ein Bier.

„Ja! Ja!“, sagt sie sich immer wieder, „Ich bin eine schöne Frau! Ich bin die Kröte, die sich jeden Morgen selber küsst.“ Heute öffnet sich etwas anderes in ihr als das gute alte Loch. Etwas anderes als dieses ewige Nichts, welches sie seit Jahr und Tag auszufüllen versuchte mit all ihren Sammlungen, den überquellenden Kleiderschränken, nur mit Gewalt zu öffnenden Schubladen voller Ringe, Ketten, Stifte, Broschüren, Frauenzeitschriften, Briefen, ungeöffneten Kontoauszügen, den Tüten voller Schokoladenkekse, die Schuhberge. Jeder Bügel trägt acht Mäntel, zehn Kleider, zwanzig Blusen. Ja, das kann sie: Dinge falten. Sie kann Dinge zusammenlegen. Sie schafft es zehn BHs in einem Briefumschlag unterzubringen. Er hatte ihr geschrieben:

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du verwaltest die liebe wie deinen kleiderschrank.

ein modell, mehrfach erstanden,

in allen farben und schattierungen,

fein säuberlich gestapelt,

warm und wartend,

bereit gelegentlich von dir ausgeführt zu werden,

oder beim nächsten umzug

durch die erinnernd seufzenden hände zu gleiten.

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Natürlich hatte er recht, er hat immer recht. Sie ertrug ihn nicht mehr. Seine ständig ausgefahrenen Krallen. Heute kann sie über ihn lachen. Etwas ist in ihr, das sie wärmt, ihren Schritt befeuchtet. Etwas was ihr panische Angst bereitet. Ja, sie ist schön. Sie ist nicht mehr alleine. „Like a Bridge over troubled water!“ Die Morgensonne scheint in die Küche und hat keine Chance gegen ihr Leuchten. Ich werde ihn nicht umarmen, nein, meine Andere, sie wird es tun. Sie studiert ihre Rolle. Sie schreibt sich ein Drehbuch. Das Handy klingelt. Egon Schiele fragt an, ob er sie zeichnen darf. Sie nickt ein leises JA. Ein Knall, der alle Tauben der Stadt davonfliegen lässt.

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(Mainz / Oktober 2000)

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In the Bordertowns of Despair / Four

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Bob Dylan / The Bridge

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4

Auch der andere betrat einen Bahnhof, den Bahnhof der neuen Stadt. Seine Freundin reiste an zur morgigen Premiere, ein junges hübsches verhuschtes Mädchen aus dem tiefen Süden, gefärbte Härte, ‚taff‘, wie man so sagt, diese Sorte Mädels, die damals in der großen Pause im Schulhof auf dem Erdboden saßen, Beine über Kreuz, selbstgedrehte Zigaretten rauchten und eben nicht auf Cat Stevens, sondern schon mal auf AC / DC standen, es gibt sie und immer noch und immer wieder. Er gibt den verhuscht mürrisch Verkaterten, sie kennt das und freut sich da zu sein. Auf dem Weg zum Theater plappert er adrenalingetränkt über Egon Schiele, diese morbid bettlakenzerwühlenden Schönheit seiner Mädchenportraits und über das Scheitern. Sie liebt ihn dafür. Er raucht.

Jetzt konnte sie sich sehen. Ihre zweiten Augen klebten auf ihrer Netzhaut. Sie war ein Maulwurf, eine Höhlenbewohnerin. Ihr Vater, er war ein junger gutaussehender – adrett hat das wohl damals geheißen – Schauspieler am Theater seines Intendantenvaters, jener, ein strenger harter gnadenloser Mann, aus dem Krieg hervor gekrochen, bis in die Seele verwundet, gemantelt in den Kokon preußischer Disziplin und Gnadenlosigkeit, hatte in jenem Sommer, den man in San Francisco als den Sommer der Liebe besungen hatte, sich im Schoss einer kleinen Tänzerin verloren und wollte sich, die Unterhose noch in der Hand, davonmachen. Doch die lästige Frucht war da und verbiss sich im Uterus der Mutter. Der Intendantenvater ergriff den flüchtenden Sohn und prügelte, ja prügelte ihn vor den Traualtar. Ein Foto gibt es noch, abgegriffen verweint in einer der vielen ihrer Kisten. Sie sammelt alles. Davon wird noch zu erzählen sein. Man sieht zwei junge Menschen lachend, das verzweifelte Lachen von Todgeweihten, Eingesperrten. Das Maulwurfskind wühlte sich ans Licht der Welt und strahlte klein dunkel pummelig, dem Vater aus dem Gesicht geschnitten, nur die spitze Nase hatte sie von ihrer Mutter mitgenommen. Sie gaben dem Kind einen russischen Männernamen, der zweite Name jedoch war Maria. Die Zeit raste dahin und der Vater war nicht aufzuhalten. Er ging. Es gab so viele Frauen. Er war so jung. Er war so schön. Er war so charmant und er konnte noch nach einer Flasche Whisky eregieren, sagt man. Die kleine Tänzerin holt das Maulwurfskind aus dem Bettchen und es lief ungebremst gegen die Wand. Es hatte über Nacht auf einem Auge 70%, auf dem anderen 30% seiner Sehkraft verloren. Aus den Augen aus dem Sinn. So sagen die Alten. Wenn ich dich nicht mehr sehen darf, will ich nur noch mich spüren. Dort draußen bist du, außerhalb meiner, da draußen weit weit weg und dort muss es auch sein, das Böse, daß dich geholt hat. Du bist nur da, wenn ich es will. Ich sehe dich nicht mehr. Nicht weil du weg bist, ich kann ja nicht sehen. Ich rieche dich. Nachdem ich Dich rief. Sie blickte in den Spiegel und hatte keinen Plan. Ihre Masken lagen im Kleiderschrank und immer noch nicht hatte sie geschrien. Die gute alte Schlange Lüge räkelte sich in ihrem Waschbecken. Ich bin Maria und habe unbefleckt empfangen.

Der andere betritt den Probenraum setzt sich und atmet ihren Duft, der in dem kleinen Theater  hängt, betritt ihre Garderobe und berührt ihre Kostüme, vergräbt sein Gesicht in ihren Rock und erleichtert sich auf der Toilette. „All apologies. Married. Buried.“ Auf dem Weg zurück kommt er an einem alten Theaterplakat vorbei. Ein dicker, schwitzender, jungenhafter Schauspieler blickt ihn an. Woher soll der Andere auch wissen, dass jener vor wenigen Wochen den Leib besessen hatte, den er nun ergreifen wollte. Er habe so schön bitte gesagt. Hatte sie gesagt. Doch dies tut nichts zur Sache. Der Andere tänzelte auf der Probebühne herum, siegestrunken und bereit zuzuschlagen. Sanft streichelte er ihr Foto, welches er seit Wochen mit sich trug. Er hatte sie fotographiert. Auf dem Weg zur Probe. Heimlich. Sie strahlte. Eine SMS verlässt den Raum. Die Liebesbriefe der Armseligen, aus der Hüfte geschossen, Zelebration des intensiven Moments. Sein kleiner schwuler Assistent überreichte ihm einen Kaffee und war ernsthaft und schlank. Er mochte seinen Chef. Er verehrte sie.

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(Mainz / Oktober 2000)

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